Das Mädchen, das nicht weinen durfte
Tapetenreste, die Luft war nicht klimatisiert und stickig.
Noch ehe ich mich in meine Enttäuschung hineinsteigern konnte, hörte ich die Stimme von Farid. Er erwartete uns zusammen mit Jassar und einigen Verwandten, die ich nicht kannte, im Zimmer. Während sich die Erwachsenen unterhielten, schaute ich mich um, aber es gab außer ein paar schäbigen Möbeln nicht viel zu sehen. Ich ging zum Fenster und hoffte, wieder einen Blick aufs Meer zu erhaschen, aber was ich sah, war nur ein riesiger Pool ohne Wasser, in dem einige Jungs Fußball spielten.
Ihr Ball war eine leere, verbeulte Pepsi-Dose und mir fiel auf, wie viel Spaß sie dennoch dabei hatten. Sie flitzten hin und her und lachten laut. »Ob sie mich wohl mitspielen lassen?« Während ich das noch dachte, hörte ich Farid schon leise in mein Ohr zischen: »Wenn ich dich nur ein Mal in der Nähe dieser Jungen sehe, oder überhaupt bei irgendwelchen Straßenkindern da draußen, dann erwürg ich dich! Noch nicht einmal sprechen wirst du mit ihnen. Hast du mich verstanden?« Ich kannte diesen Ton in seiner Stimme nur zu gut und hörte auf, vom Fußballspielen zu träumen. Vom anfänglichen Hochgefühl war nun gar nichts mehr zu spüren.
Farid hingegen fand sich schnell zurecht. Sein bester Freund war Jassar, der nur wenig älter war als er. Wenn wir zusahen, wie viel Spaß die beiden großen Jungs miteinander hatten, wurde ich ganz wehmütig. Ich hatte Farid noch nie so ausgelassen und glücklich gesehen wie zu dieser Zeit. Jassar grenzte auch uns Kleine nicht aus, im Gegenteil, wenn Farid gemein zu uns war und mit uns schimpfte, nahm er uns in Schutz.
»Rede nicht so mit ihnen! Es sind kleine Kinder, du musst es ihnen erklären.« Und Farid hörte auf ihn.
Sie waren oft bei Jassars Familie. Sein Vater, das Sippenoberhaupt, war schon lange tot. Er war Direktor an der Oper in Mogadischu gewesen und hatte seiner zweiten Frau und den zehn gemeinsamen Kindern zwei Häuser und ein Teppichgeschäft in der Stadt hinterlassen. Dort arbeitete Jassar mit seinen beiden ältesten Brüdern. Seine Geschwister waren zum Teil nicht älter als ich. Ihre beiden Häuser waren nur durch einen Hügel getrennt und das eine hatten sie an einen Österreicher vermietet, der nur selten da war. Manchmal ließ Jassar uns heimlich dort hineinschauen, denn der Österreicher hatte viele spannende Gegenstände wie Lupen, Kompasse und sogar einen Fallschirm dort aufbewahrt, aber wir mussten alles wieder genau an seinen Platz legen, damit nicht auffiel, dass wir herumgeschnüffelt hatten.
Das andere Haus bewohnte Jassars Familie selbst. Es lag an einem Friedhof und man konnte von einem Fenster aus direkt auf die Gräber schauen. Ich fand den Friedhof unheimlich und wunderte mich, dass die anderen Kinder keine Angst davor hatten. Als Jassar seinem jüngeren Bruder einmal hinterherlief, um ihn zu verprügeln, weil er frech gewesen war, versteckte der sich auf einem Grab, das von einer kleinen Mauer umrandet war. Er hoffte wohl, dass Jassar an ihm vorbeilaufen würde, aber der erblickte ihn, packte ihn an seinen Segelohren und zog ihn daran hoch. Diese brutalere Seite von Jassar war mir neu, denn zu uns war er immer sehr lieb.
Aber sein Bruder war auch sehr frech und einfach nicht zu bändigen, er heckte immer wieder neuen Unsinn aus, kletterte auf die höchsten Bäume und sprang wieder herunter, ohne die geringste Angst, sich wehzutun. Einmal nahm er eine dicke Eisenstange vom Zufahrtstor ab. Die Stange endete unten in einer Spitze, mit der das Tor im Boden verankert wurde, und war ungefähr einen halben Meter lang und sehr schwer und rostig. Als er mit der Stange herumfuchtelte, rutschte sie ihm aus der Hand und bohrte sich in seinen rechten nackten Fuß, in den Fußrücken genau zwischen den großen und den zweiten Zeh. Ich schrie so laut, als hätte er mich damit verletzt, dabei klaffte das große, blutende Loch in seinem Fuß. Aber er weinte nicht, schrie nicht, jammerte nicht mal, stattdessen stocherte er mit der Metallstange in der Wunde herum und es schien ihm Spaß zu machen, mich noch mehr zu schockieren.
Besonders begeistert war die gesamte Familie immer, wenn das Telefon in ihrem Haus klingelte, denn das tat es äußerst selten, weil nur wenige Somalis überhaupt eins besaßen und deshalb wenig telefoniert wurde. Wenn das Telefon, das noch eine Wahlscheibe hatte, bimmelte, rannte die ganze Familienhorde hin, weil jeder als Erster den Hörer abnehmen wollte. Jassars Schwester Uma
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