Das Mädchen, das nicht weinen durfte
war die kräftigste von allen, ein richtig dicker Brummer. Natürlich
war sie nie die Erste am Telefon, aber der Boden vibrierte, wenn sie losrannte. Sie sah sich dauernd die einzige Videokassette an, die sie besaß, es war ein »Best of« von George Michael und sie hörte seine Lieder rauf und runter. Wenn das Video von »Careless Whisper« lief, knutschte sie ihn auf der Mattscheibe.
Zum Mittagessen gab es hier einen riesigen Blechteller mit Reis, der auf den Boden auf eine Matte gestellt wurde, und alle, die Platz fanden, setzten sich um den Teller herum. Mit der rechten Hand nahm man ein kleines Häufchen Reis und formte es mit wenigen, raschen Bewegungen zu einer kleinen Rolle, dann wurde es in den Mund gesteckt. Da ich das nie gelernt hatte, fragte ich nach einem Löffel und erntete zunächst erstaunte Blicke, bis dann alle loslachten. Aber ich sollte den Löffel bekommen, es dauerte nur einen Moment: Eine von Jassars Schwestern musste ihn sich erst bei Nachbarn leihen, denn sie selbst besaßen gar keinen Löffel.
Da ich immer nur mit meiner Mutter somalisch gesprochen hatte, fehlten mir nach unserer Rückkehr anfangs manchmal die passenden Worte, sodass ich Englisch sprechen musste. Das belustigte vor allem Jassars jüngere Schwestern Inan und Muna, die so alt waren wie ich, etwa ebenso wie meine deutsche Aussprache. Meine ganze Art machte mich zur Außenseiterin, ich war »die Deutsche«.
Das erste Haus, das wir in Mogadischu bezogen, hatte drei Stockwerke und war im mediterranen Stil gebaut. Gegenüber wohnte der russische Botschafter und daneben der pakistanische, ihre Nationalflaggen wehten am Fahnenmast auf dem Dach im Wind. Es war schon dunkel, als wir eintrafen. Durch ein Stahltor ging es in den Vorgarten, in dem ein kleines Gartenhäuschen stand. Alle Verwandten halfen uns beim Umzug und stürmten mit uns in die Eingangshalle aus weiß-schwarzem Marmor. Im Erdgeschoss gab es einen Speisesaal, ein Wohnzimmer, die Küche, ein Bad sowie zwei Schlafzimmer, eines für Tante Tita und eines für Ayeya. Im
Obergeschoss schliefen in einem Zimmer meine Eltern, in einem anderen Farid und im dritten Nanna, Jamal und ich zusammen. Dann gab es noch das Dachgeschoss mit einer riesigen Terrasse. »Ohhh!«,»Ahhh!« oder »Uhhhh!« entfuhr es meinen staunenden Freunden, denn das Haus gefiel uns allen.
Ankunft im somalischen Alltag
Papa ging seiner Arbeit nach und war viel auf Geschäftsreisen, wie zuvor auch. Ich fühlte mich hier einsamer als in Ostberlin, weil ich mich nachmittags nach der Schule gar nicht ablenken konnte. Ich hatte keine Freunde, Marcel fehlte mir sehr, ich konnte auch nicht in unseren geliebten Wald oder zum Spielplatz laufen, weil es weder Wald noch Spielplatz gab. Es wäre auch viel zu gefährlich gewesen, einfach so vor die Tür zu gehen. Wir hatten Wachmänner, die das Haus Tag und Nacht beschützten, wie alle anderen wohlhabenden Familien in unserem Viertel auch. Allerdings wechselten die Wachmänner oft, da viele selbst kriminell waren oder wurden, verführt durch den Reichtum um sie herum. Man konnte ihnen nicht trauen.
Außerhalb unseres Viertels gab es erschreckende Armut zu sehen. Die Häuser waren aus steinhartem, getrocknetem Kuhdung oder aus Wellblech. In winzigen Hütten lebten mehrere Generationen von der Oma bis zu den Enkelkindern. Sie schliefen auf dünnen Strohmatten auf dem Boden. Um Wasser zu holen, mussten sie zum Brunnen laufen oder Trinkwasser vom Händler kaufen, der mit seinem beladenen Esel von Markt zu Markt zog. Manche Familien besaßen Kühe oder Ziegen, sodass sie sich von deren Milch ernähren und damit handeln konnten. Die Kinder trugen abgewetzte Shorts, einige auch alte Pantinen, aber richtige Schuhe konnten sich die wenigsten leisten. So spielten sie den ganzen Tag auf den Straßen im Sand.
Obwohl es uns an nichts fehlte, sträubte sich in mir alles gegen das Leben hier. Ich fühlte mich nicht sicher und geborgen, vieles war mir unheimlich. Abends saß ich manchmal mit Tante Tita, Oma und ein paar Hausangestellten vor dem Eingangstor an der Straße, um zu quatschen. Eines Abends wollte ich eine Geschichte hören und die Köchin begann zu erzählen.
»Siehst du da hinten den dunklen, buschigen Weg?« Ich drehte mich um und nickte. »Man sagt, da läuft manchmal eine alte, dreibeinige Frau entlang. Sie ist eine Hexe. Sie hat einen Buckel und wenn sie vor dir steht, streckt sie sich hoch und schaut dir tief in die Augen, ohne ein Wort zu sagen. Dann
Weitere Kostenlose Bücher