Das Mädchen, das nicht weinen durfte
geht sie weiter, aber du bist für immer verflucht.«
Das war nicht die Art Geschichte, wie sie Papa mir immer erzählte. Ich bekam Angst, denn man brauchte nicht viel Fantasie, um sich am Ende der Straße solche Gestalten vorzustellen. Alles war dunkel, es gab keine Laternenbeleuchtung und kaum Häuser mit Strom, die wenigen, die elektrisches Licht hatten, wurden von einem Benzin-Generator in der Garage versorgt, der so laut ratterte, dass man ihn auch bei geschlossenem Tor draußen hören konnte. Den Kindern hier wurden oft Geschichten von Hexen oder bösen Gestalten erzählt und ich bekam Albträume davon.
Auch meiner Mutter schien es immer schlechter zu gehen. Sie weinte viel und zog sich immer weiter in sich selbst zurück, statt ihre Traurigkeit mit uns zu teilen. Ich verstand nicht, was mit ihr los war, und manchmal dachte ich, dass die dreibeinige Frau sie verflucht hat, aber heute glaube ich, dass sie sich in Somalia noch einsamer gefühlt hat als vorher in Berlin.
Sie wurde auch immer unberechenbarer, bekam Wut- und Eifersuchtsanfälle, wenn mein Vater verreisen musste. Wahrscheinlich erklärt es sich aus ihrer Kindheit, dass sie eine solch panische Angst hatte, ihn und das damit verbundene sorglose Leben wieder zu verlieren. Jedenfalls führte diese Unsicherheit dazu, dass sie alles anfeindete, was nur in seine Nähe kam. Sogar seine
Freunde sah sie bald als Konkurrenz. Sie konnte weder lesen noch schreiben und spürte wohl auch, dass sie ihm nicht alles geben konnte, was er als gebildeter Mann brauchte. Ihr ganzes Tun war darauf konzentriert, diesen Mann nicht mehr aus den Augen zu lassen, nie wieder. Alles andere war egal - oft sogar ihre Kinder.
Sie war selbst noch ein Kind gewesen, als sie meinen ältesten Bruder Farid zur Welt gebracht hatte. Sie konnte keine Gefühle geben, Zuneigung war ihr fremd, denn auch sie hat nie welche bekommen. Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, kann ich mich nicht daran erinnern, dass sie mich mal umarmt, gestreichelt oder geküsst hätte. Für mich war sie eher eine Schwester als eine Mutter, aber eine jüngere Schwester, um die man sich kümmern musste, weil sie zu sehr in ihrer eigenen Welt gefangen war und das wirkliche Leben sie überforderte.
Wir hatten zwar einen Generator in der Garage, aber manchmal fiel auch der aus und es gab keinen Strom. Zu meinem achten Geburtstag wurden zahlreiche Verwandte eingeladen, die mich alle das letzte Mal als Baby gesehen hatten. Viele brachten ihre Kinder mit. Ich kannte kaum einen von ihnen, aber das war mir egal. Papa hatte eine große Torte zubereiten lassen, die leider viel zu süß war. Und plötzlich fiel an diesem Abend der Strom aus. Im Dunkeln musste ich meine Geschenke öffnen, und so verbrachten wir den Rest des Abends, weshalb ich froh war, als alle gegangen waren. Ich hatte schon oft von der Rückkehr nach Deutschland geträumt, aber in diesem Augenblick wünschte ich mir nichts sehnlicher.
Mein Vater spürte genau, wie unglücklich ich in dieser Zeit war. Als er einmal besonders lange auf einer Geschäftsreise im Ausland war, wachte ich nachts von Geräuschen im Haus auf. Papa war wieder da und hatte zahllose Kartons ins Gästezimmer geräumt, bis das ganze Zimmer voll war. Alle wurden davon wach und rannten hinunter. Meine Geschwister liefen sofort zu den neuen Spielsachen, aber ich lief direkt in seine Arme. Die Geschenke
waren mir egal und ich spürte, dass er sie auch gekauft hatte, weil er ein schlechtes Gewissen hatte.
Farid genoss die Zeit in Somalia in vollen Zügen. Als Junge aus reichem Haus war die Welt hier spannend und grenzenlos. Abends schnappte er sich Papas Mercedes und ging feiern. Er war ein sehr hübscher Kerl und die Mädchen erlagen der Mischung aus seinem guten Aussehen, reichlich Geld, großen Sprüchen und der Chance auf eine mögliche Zukunft ohne Sorgen. Außerdem waren Jassar und er ein unschlagbares Team. Sie prahlten immer mit ihren Liebesgeschichten, so sehr, dass sogar ich merkte, wie sie übertrieben. Denn wenn ich zufällig dabeisaß, weil Farid mich nicht sofort weggeschickt hatte, lauschte ich ihnen neugierig. Es war eine ziemlich erlebnisreiche Welt, von der sie erzählten. Wenn es um Mädchen ging, sprachen sie Englisch, weil sie wohl glaubten, dass ich nicht jedes Wort verstehen würde. Aber ich konnte Englisch, obwohl ich nicht mal genau sagen kann, wie ich es gelernt habe. Vielleicht, weil Farid mit meinem Vater immer Englisch gesprochen hatte, vielleicht, weil wir
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