Das Mädchen, das nicht weinen durfte
Sie trug ein altes Gewand, das bis zu den Knöcheln reichte, darüber ein viel zu großes graublaues Männerhemd, das schmutzig und befleckt war. Die Ärmel hatte sie hochgekrempelt. Ich spürte, dass ihr das Outfit unangenehm war, aber sie beugte sich trotzdem zu Farid ans Fahrerfenster.
»Was machst du denn hier? Woher weißt du überhaupt, dass ich hier wohne?« Farid antwortete ganz sanft: »Du hast doch gesagt, dass du in dieser Gegend wohnst. Also habe ich dich gesucht.« Er wusste, dass das dem Mädchen schmeicheln würde. Farid hatte nur Augen für das Mädchen, das ihn jetzt auch ganz verliebt anschaute. Ich beobachtete sie vom Beifahrersitz aus, sie hatte mich offenbar vor lauter Aufregung noch gar nicht richtig bemerkt. Das war mir ganz recht, denn so konnte ich sie ungestört mustern. Sie war sehr hübsch, die kurzen, vollen Locken umschmeichelten ihre feinen Gesichtszüge. Das verdreckte Gewand war eng um ihren Körper gewickelt, sodass ihr runder Po hervortrat. Sie war groß und schlank und sogar das weite Hemd stand ihr irgendwie. Ihre anfängliche Unsicherheit war im Laufe des Gesprächs verflogen, sie lachte viel und die Art, wie sie sich sanft bewegte, machte sie sehr weiblich. Ich merkte, dass sie für meinen Bruder schwärmte, und ich verstand, weshalb auch sie ihm gefiel. Leider mussten die beiden den Kontakt schon bald abbrechen, denn für ein somalisches Mädchen war es verboten,
sich mit einem Jungen zu treffen, wenn es nicht mit ihm verheiratet war.
Farid hat damals bestimmt viele Herzen junger, schöner Mädchen erobert, auch das eines anderen Mädchens namens Carla. Sie war Afroamerikanerin, sprach nur Englisch und arbeitete in der US-Botschaft. Sie fuhr einen gelben, offenen Jeep und kannte viele Leute, Deutsche, Amerikaner, Italiener, darunter viele Jungs in ihrem Alter. Sie war unabhängig und viel unterwegs, was als Frau in Somalia sehr ungewöhnlich war. Aber da sie keine Somali war, musste sie sich nicht an die Regeln halten, die für Frauen galten. Gesichtsschleier trugen zwar nicht alle, aber auch meine Mutter und die Tanten verhüllten in der Öffentlichkeit ihr Haar. Carlas Unabhängigkeit imponierte mir. Sie ließ ihre Haare zu kurzen Dreadlocks flechten und ihre Nase und Ohren waren gepierct. Sie liebte meinen Bruder, besuchte uns oft, und die ganze Familie mochte sie. Ich wusste nie, ob die beiden so richtig zusammen waren, denn er war nicht immer nett zu ihr, aber Carla ließ sich dadurch nicht entmutigen und suchte durch ihre Besuche trotzdem seine Nähe. Wenn sie bei uns war, um ihn zu sehen, war es für ihn okay, aber sobald einer seiner Freunde ihn abholte, verabschiedete er sich: »Bye, bye, ich bin jetzt weg.« Und dann stand sie da und tat mir leid, weil sie so traurig war. Sie schüttete mir oft ihr Herz aus und ich versuchte sie zu trösten und aufzumuntern, indem ich sie in den Arm nahm und ihr gut zuredete.
Carla nahm mich oft in ihrem Jeep mit. Dann besuchten wir ihre Freunde oder fuhren einfach durch die Gegend. Als wir wieder mal auf Spritztour waren, zählte ich ihre Piercings. »Deine vielen Ohrringe, die tun doch bestimmt weh, oder?« Sie packte sich an die Ohrmuschel und zog an einem ihrer Ringe. Dabei sah ich, dass ihre Ohrlöcher teilweise schon richtig groß und ausgeleiert waren.
»Ach, Quatsch, das tut überhaupt nicht weh. Hast du dir noch keine Löcher für Ohrringe stechen lassen?« Ich schüttelte den
Kopf. »Du bist doch ein Mädchen, die tragen alle Ohrringe.« Ich schaute mir ihre großen Ohrlöcher noch mal genauer an. »Komm, wir lassen dir Ohrlöcher stechen!« Sie zog die Handbremse fest an, der Jeep drehte sich mitten auf der Straße in die andere Richtung, dann gab sie Gas.
Am Strand waren ein paar kleine Häuser, die Souvenirs verkauften. Vor der Tür waren Stände aufgebaut, neben frischem Fisch gab es auch selbst gemachte Trommeln aus Tierfell, Strohmatten und Behälter, die mit der Hand geflochten wurden. In einem kleinen Laden konnte man sich auch Ohrlöcher stechen lassen. Carla nahm mich an die Hand und wir gingen rein. Sie erklärte den Frauen durch Gesten, was wir wollten, und zeigte auf meine Ohren. Carla konnte zwar kein Somalisch, aber sie wusste genau, wie sie sich in diesem Land zurechtfinden konnte. Ich bewunderte an ihr, dass sie so selbstbewusst war und sich verteidigen konnte, wenn ihr etwas nicht passte. Sie hatte gar keine Angst.
Es waren drei Frauen im Laden, die zwei Kundinnen mit Henna Muster auf Hände und
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