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Das Mädchen, das nicht weinen durfte

Titel: Das Mädchen, das nicht weinen durfte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khadra Sufi
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war es schon ein bisschen schwieriger, an westliche Güter zu kommen, weil man sie einfliegen
lassen musste. Mein Lieblingsfrühstück Kellog’s Cornflakes oder Süßigkeiten konnte man nicht mal eben kaufen, deshalb hatte mein Vater Vorräte angelegt, die aber immer schon wieder aufgebraucht waren, bevor er Nachschub besorgen konnte.
    »Ich habe eine Idee!«, sagte Farid plötzlich. »Es gibt hier ein spezielles Geschäft, da fahren wir jetzt hin.« Wir fuhren durch die ganze Stadt und kamen schließlich an diesem Shop an, der klein, aber prall gefüllt mit Marken war, die ich nur aus Westberlin kannte. »Such dir aus, was du willst.« Es war bis zu diesem Tag einer der wenigen Momente, in denen mein großer Bruder nett zu mir war. Ich packte mir all meine Lieblingssachen in den Einkaufskorb und mit einer vollen Plastiktüte verließen wir den Laden.
    Farid veränderte sich in dieser Zeit. Im Gegensatz zu mir fühlte er sich hier zu Hause, umgeben vom Familienclan und unserer Kultur, die ihn als Kind geprägt und die er in den Jahren danach im Ausland vermisst hatte. Er unternahm mit mir noch einige Spritztouren mit dem Auto, brachte uns oft zum Lachen und manchmal spielte er sogar mit uns. Einmal waren wir im Dachgeschoss, wo ein großer Schrank meiner Mutter stand. Farid zog sich ein blaues Tüllkleid von ihr über, band sich mit einem edlen, rosafarbenen Seidentuch eine Schleife auf den Kopf und stolzierte in ihren viel zu kleinen Stöckelschuhen auf und ab. Dabei schnitt er Grimassen und äffte Frauen nach, bis wir uns vor Lachen auf dem Boden kugelten. Endlich sah ich die guten Seiten an ihm, die ich schon immer erahnt hatte. Von nun an freute ich mich jedes Mal, wenn er mal nicht auf Achse war und wir Zeit mit ihm verbringen konnten. Ich glaube, dass Jassar ihn irgendwie positiv beeinflusst hatte, denn er war nicht nur sein bester Freund, Farid schaute regelrecht zu ihm auf.

Ausflüge in die Welt der »Großen«
    Auch in Somalia hatten wir mehrere Autos, aber ein royalblauer Mercedes, den Papa noch in Deutschland gekauft und hierher verschifft hatte, war unser Lieblingswagen, vor allem Farids, denn er glaubte, damit bei den Mädchen noch besser anzukommen. Aber mein Vater erlaubte ihm nicht immer, damit zu fahren.
    »Jassar hat damit schon einen Unfall gebaut, jetzt ist er verkratzt und ich weiß, Farid, wie rasant du fährst!«, meinte er. Aber mein Bruder unterlief das Mercedes-Verbot heimlich, wie fast alles. Zunächst schickte er meist mich zum Auto, um zu sehen, ob der Tank voll genug war, sodass es nicht auffiel, dass er durch die Stadt gefahren war. Dann ging er mit uns auf eine Spritztour.
    Einmal nahm mich Farid nachmittags mit. Er wollte zu einem Mädchen fahren, um es heimlich zu treffen. Ich war gespannt, wie sie aussehen würde. Wir fuhren heraus aus der Stadt und je weiter wir kamen, umso ärmlicher wurde die Gegend. Schließlich kamen wir in ein kleines Dörfchen. Vor den Hütten waren Frauen mit der Hausarbeit beschäftigt. Sie schütteten Reis in große, runde Gefäße, um ihn auszulesen, oder sie fächerten mit einem aus Stroh geflochtenen Fähnchen oder einem Stück Karton Kohle in einem Tongefäß an, auf das dann der Kochtopf gestellt wurde.
    Farid fuhr langsam durchs Dorf, denn er war nicht sicher, in welcher der Hütten das Mädchen lebte, und er hoffte, sie auf der Straße zu erblicken. Der Mercedes erregte Aufmerksamkeit, die Frauen begannen zu flüstern. Vor einer Hütte hockte ein Mädchen auf dem Boden, das ein Messer zwischen die Zehen gesteckt hatte. Die Spitze zeigte nach oben, die Schneide nach vorn. Das Mädchen nahm ein dickes Stück Fleisch und rieb es gegen das Messer, bis es zerteilt war, legte es zurück in den Topf und nahm das nächste Stück. So verhinderte das Mädchen, dass das Fleisch auf den staubigen Boden fiel, denn eine Unterlage oder einen Tisch gab es nicht. Außerdem wäre das Messer auch nicht scharf
genug gewesen, um das Fleisch einfach auf einer Platte liegend durchzuschneiden.
    Ich beobachtete ganz genau, was das Mädchen tat, denn ich hatte so etwas noch nie gesehen. Plötzlich blickte sie auf zu unserem Auto und erschrak. Ihr Blick verriet, dass mein Bruder nicht anhalten und schnell weiterfahren sollte. Er fuhr ein Stück aus den engen Gassen heraus und parkte am Ende des Weges. Es vergingen ein paar Minuten, dann kam das Mädchen angelaufen. Sie schien überrascht über Farids Besuch zu sein und versuchte sich schnell ihre kurzen Locken zu richten.

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