Das Mädchen, das nicht weinen durfte
traurig: Gerade als wir ein liebevolles Verhältnis zueinander entwickelten, verschwand Farid. Er hatte die Nase voll von Somalia und wollte wieder westliches Leben genießen. Für den Fall, dass seine Pläne platzen sollten, hatte Papa ihm Geld zugesagt. Es
konnte also nichts schiefgehen. Für Farid hörte sich ein Leben in Kanada aufregend und vor allem unbeschwert an, das reizte ihn. Für den Start in der neuen Welt hatte Papa ihm 20 000 Dollar mitgegeben, die Farid sich aber schon am Flughafen aus seinem Gepäck klauen ließ. So war Farid, sorglos und verwöhnt, aber er flog trotzdem und ich sollte meinen Bruder erst viele, viele Jahre später wiedersehen, zu einem sehr traurigen Anlass.
Farid war weg. Und mir fehlte Deutschland so sehr. Ich schrieb meinem Vater Zettelchen, die ich ihm zur Arbeit mitgab: »Lieber Papa, mir ist so langweilig, Du sollst nicht immer so viel weg sein. Und wann gehen wir wieder nach Berlin zurück?«
Eines Abends kam mein Vater nach Hause und hielt ein paar Videos in der Hand.
»Njunja, komm, ich hab hier was für dich.«
»Was ist das?«
»Du musst es dir anschauen, um es herauszufinden.« - »Papaaaa, sag schon, los …« Ich zupfte an seinem Sakko, aber er lachte nur. Ich rannte ins Wohnzimmer und steckte die Kassette in den Videorekorder. Dann schaute ich mit großen Augen auf den Bildschirm. Papa war mir gefolgt und blieb hinter mir stehen. Als die Filmmusik ertönte und ich den Mann mit den Dackelaugen und dem schiefen Mund sah, schrie ich: »Rockyyyyy!« Er hatte mir alle Folgen von Rocky Balboa besorgt, weil er wusste, dass ich die Filme mit Silvester Stallone über alles liebte. Ich sprang hoch, machte noch in der Luft einen Schneidersitz und knallte mit meinem Po auf den Teppich. Papa lachte. Ich hatte Rocky das erste Mal in Berlin angeschaut. Er war mein Held.
Eines Tages stand das große Stahltor weit auf und noch bevor der Wachmann es schließen konnte, kam ein Hund herein und rannte direkt auf mich zu. Er war ein bisschen aufgeregt und hechelte mit seiner langen Zunge. Ich gab ihm etwas Wasser und streichelte sein glänzendes Fell, das beige-rötlich gefleckt war. Es war ein gesunder und gepflegter Hund, kein Straßenköter, er
musste entlaufen sein, aber ich würde ihm jetzt ein neues Zuhause geben und einen Namen brauchte mein neuer Freund auch: Rocky.
Im Garten gab es ein kleines Häuschen, das ich ihm herrichtete. Er hatte dort so viel Platz, dass er auslaufen und mit mir spielen konnte. Nur unser Wachmann, der sein Zimmer neben der Garage hatte, regte sich über Rocky auf.
»Hunde sind unrein!« Aber das war mir egal und ich lachte mich kaputt, wenn Rocky ihm nachts sein einziges Paar Hosen klaute, das er zum Trocknen draußen aufgehängt hatte. Dann warf sich der Wachmann ein Hoosgunti um, ein Tuch, das viele Männer trugen. Es wurde um die Hüfte gebunden. So rannte der Wachmann Rocky quer durchs Haus nach, bis der Hund die Hose endlich fallen ließ.
Auch in meiner Klasse erzählte ich von meinem neuen Freund, der mir zugelaufen war. Mein Deutschlehrer, Herr Neumann, wurde hellhörig, kam an unseren Tisch und lauschte. Nach dem Unterricht rief er mich an sein Pult.
»Euch ist ein Hund zugelaufen? Wie sieht er denn aus?«
»Sein Fell ist weiß und rotbraun.«
»Und seit wann ist er bei euch?« Sein ernster Blick beunruhigte mich.
»Seit einer Woche.« Warum wollte er das alles wissen?
»Mir ist mein Hund entlaufen, auch vor ungefähr einer Woche«, erklärte er. Ich schaute ihn nur mit großen Augen an. »Ich komme heute um 4 Uhr mal bei euch vorbei und schaue, ob er das ist, ja?«
Um kurz vor vier stand ich in der Einfahrt und wartete. Dann hörte ich ein Auto über den sandigen, steinigen Weg bis vor unser Tor fahren. Rocky spitzte erst die Ohren, wedelte dann mit dem Schwanz und lief zum Tor. Ich rief ihn zurück, doch er hörte nicht auf mich und zappelte wild vor Freude. Als das Auto dann hupte, bellte er und sprang hin und her. Er hatte sein Herrchen erkannt. Traurig musste ich meinen neuen Freund ziehen lassen.
Von der deutschen auf die somalische Schule
Obwohl uns bis dahin nie etwas Schlimmes passiert war, wussten wir schon sehr bald, dass Somalia nicht sicher war. In anderen Regionen gab es schon die ersten, kleineren Aufstände und Kämpfe zwischen den verschiedenen Clans. Ziel vieler Aufständischer war es, den Diktator Siad Barre zu stürzen, und mit der Zeit wurden die politischen Probleme auch für eine Neunjährige wie mich
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