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Das Mädchen, das nicht weinen durfte

Titel: Das Mädchen, das nicht weinen durfte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khadra Sufi
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Füße malten. Sie schienen sehr konzentriert, die schönen Symbole so gleichmäßig wie möglich aufzutragen, denn die rostbraune Farbe würde später trocknen und das Muster danach wochenlang auf der Haut bleiben, bis es schließlich verblasste. Frauen bemalten sich meist zu besonderen Gelegenheiten mit Henna, bei Hochzeiten oder Feierlichkeiten. Auch ich wurde mal damit bemalt, aber es brannte auf meiner Haut, bis es trocken war, und deshalb beließ ich es bei diesem einen Versuch.
    Die dritte, die noch in diesem Shop war, machte einen unsicheren Eindruck, als ob sie neu wäre. Zudem war sie noch sehr jung.
    »Schnapp dir da hinten mal das Gerät und stich ihr die Löcher! Ich bin beschäftigt«, rief eine der beiden anderen Frauen ihr zu. Das Mädchen versuchte ihre Unsicherheit zu verbergen, aber ich wurde langsam nervös und wollte am liebsten abhauen,
doch noch bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, rief die Chefin:
    »Setz dich da auf den Hocker!« Sie wies auf einen Hocker, der mit einem in der Sonne getrockneten Tierfell überzogen war. Carla stand an der Tür und hielt die Arme unter der Brust gekreuzt. Ihr Kopf war leicht geneigt und sie beobachtete die Szene mit einem strengen Blick. Auch sie traute dem Mädchen diese Aufgabe offenbar nicht zu und beobachtete sie genau, als sie mit der Stechpistole auf mich zukam.
    »Wie funktioniert das Ding?«, fragte das Mädchen.
    »Einfach dazwischenklemmen und dann drücken!«, rief die Chefin. Ich starrte das Gerät gebannt an, bis es aus meinem Blickwinkel verschwand. Dann hielt ich mich am Fell des Hockers fest und war bereit, jeden Augenblick loszulaufen, aber ich traute mich nicht. »Warum hilft Carla mir nicht?!«, dachte ich verzweifelt. Ich selbst bewegte mich keinen Millimeter. Das Mädchen klemmte sich vor Angst den Stoff ihres Kopftuches zwischen die Vorderzähne und als sie mein Ohrläppchen in die Öffnung der Stechpistole klemmte, kniff sie ihre Augen zu. Und dann drückte sie ab … »Aaah! Auaaaa!« Der kleine Ohrring war drin. Das Mädchen öffnete erleichtert die Augen und ging auf die andere Seite. Sie klemmte das zweite Ohrläppchen in die Pistole, aber diesmal kniff sie ihre Augen ein bisschen zu zeitig zu, ein verhängnisvoller Fehler, dessen Folgen man bis heute an meinem linken Ohr sehen kann. Sie hatte mir das Loch ins letzte Fitzelchen des Ohrläppchens gestochen statt in die Mitte. Kein Wunder, mit geschlossenen Augen! Ich stand sofort auf und ging raus. Carla bezahlte und kam nach.
    »Die haben es ja noch nicht mal desinfiziert«, meinte sie nur. Zu Hause rannte ich ins Bad vor den Spiegel. Es sah noch schlimmer aus, als ich befürchtet hatte. Das eine Ohrloch saß viel tiefer als das andere, und mit der Zeit riss die Haut fast, sodass das Loch riesig wurde. Nicht mein schönstes Andenken an Carla.

Sehnsucht nach der alten Heimat
    Eines Abends hörte ich, wie Papa und Farid im Konferenzraum laut diskutierten, einige Stunden lang hatten sie sich dort eingeschlossen. Das war ungewöhnlich, denn Farid suchte den Kontakt zu meinem Vater nur, wenn er etwas von ihm wollte - Geld, das Auto oder sonst irgendetwas. Es musste also etwas Wichtiges sein, das es zu besprechen gab. Ich lauschte an der Tür, um zu hören, worum es ging. Papas Stimme klang fest und überzeugt.
    »Wie stellst du dir das denn vor? Du bist erst 18 Jahre alt! Wovon willst du leben? Wo willst du arbeiten? Wo willst du wohnen?« Farid aber ließ nicht locker.
    »Papa, glaub mir! Wir haben uns das genau überlegt. Wir studieren dort und gehen nebenbei arbeiten. Hassan hat schon einen Job. Wenn du mir regelmäßig ein bisschen Geld schickst, dann werde ich schon klarkommen. Ich habe dort viel mehr Möglichkeiten.« So ging es die ganze Zeit hin und her. Farid wollte also Geld, das war keine Überraschung. Aber wo wollte er hin? Gerade als ich in mein Zimmer gehen wollte, riss Papa die Tür auf: »Na gut, wenn du es unbedingt willst, dann tu es!« Er sah besorgt aus und mein Bruder wollte ihn beschwichtigen.
    »Mach dir keine Sorgen! Das ist eine gute Idee. Du wirst schon sehen.« Dass diese Idee wirklich gut war, dass sie ihm viel Leid ersparen würde, konnten wir alle zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen, und Papa verschwand in seinem Zimmer.
    »Kanada, ich komme! Ja, ja, ja! Kanada ich komme!«, jubelte Farid und legte den »Moonwalk« hin. »Ich ziehe nach Kanada!«
    »Für immer?«, fragte ich.
    »Ja! Ich werde dort studieren und dann Geschäfte machen!« Ich war

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