Das Mädchen, das nicht weinen durfte
als Papa das Tor verschlossen hatte, und wurde jetzt immer unruhiger.
Plötzlich hörten wir kreischende Kinderstimmen und ein kleiner Junge kam aus dem Haus gerannt. Er hatte einen weißen, durchnässten Stofffetzen über seinen Schultern hängen und lachte laut.
»Ey! Geht mal da rein! Die haben einen riesigen Swimmingpool!«, rief er uns zu. Ich wollte dem Jungen nachlaufen, aber Jassar packte mich am Zipfel meines T-Shirts: »Du bleibst schön hier!«
»Aber die können doch nicht einfach in unser Haus gehen!«
»Khadra, wir können uns jetzt nicht mit denen anlegen. Das ist viel zu gefährlich.«
Er zog mich weiter und wir liefen ein paar Meter zu unserem anderen Haus. Als wir näher kamen, traute ich meinen Augen kaum. Die weißen Wände waren übersät mit Einschusslöchern, so groß wie Tennisbälle. Drinnen war alles leer geräumt, Möbel, Schränke, Stühle, Klamotten, alles war weg. Das, was sich nicht wegtragen ließ, war zerstört worden, aus dem Aktenschrank in meinem Büro waren die Schubladen, die ich sorgfältig abgeschlossen hatte, herausgerissen worden, und mit meinem Nagellack hatte jemand die Wände beschmiert. In meinem Schlafzimmer stand mein Bett nur noch auf einem Bein, die Matratze fehlte. Ich wusste nicht, ob ich weinen oder brüllen sollte vor Wut.
»Iiihhhhhh!«, schrie Jamal plötzlich aus dem Badezimmer meiner Eltern. Die Vandalen hatten überallhin uriniert, Fliegen balgten sich auf den Kothaufen und es stank bestialisch. Jetzt musste ich mich übergeben. Wortlos verließen wir unser Haus, das nie mehr unser Zuhause werden sollte, und fuhren zurück.
Der lange Schatten über meiner Kindheit
Jassars Familie hatte ja oberhalb ihres eigenen Hauses ein weiteres, das sie über Jahre hinweg an den Österreicher vermietet hatten, der alle paar Monate mal gekommen war, aber seit Ausbruch
des Bürgerkriegs nicht mehr. Wir kannten das Haus noch aus der Zeit, als wir in Somalia angekommen waren und einige Male heimlich drin gewesen waren, um so interessante Gerätschaften wie Kompasse und Ähnliches zu betrachten.
»Wollt ihr noch mal in das Haus da oben?«, fragte uns Jassar jetzt, und natürlich wollten wir. Das Haus hatte zwei Stockwerke, war mit wenigen, aber modernen Möbeln eingerichtet und an der Wand hingen einige Gemälde. Der Boden war mit einem fliederfarbenen Teppich belegt und im Wohnzimmer lagen zwei Matratzen nebeneinander, auf denen Jamal, Nanna und ich gleich herumtobten und uns mit den Kissen eine wilde Schlacht lieferten. Jassar begann uns zu kitzeln, wir rannten durchs Haus, schreiend und lachend, und hauten uns die Kissen um die Ohren. Ich spielte völlig unbeschwert, denn solange meine Geschwister dabei waren, hatte ich ja nichts zu befürchten. Irgendwann waren wir vom Spielen fix und fertig.
»Kommt, wir legen uns etwas hin und ruhen uns aus«, sagte Jassar. Er legte sich auf die linke Seite der Matratzen, Jamal warf sich neben ihn, Nanna legte sich auch in die Mitte und ich ließ mich auf der rechten Seite fallen. Langsam, ganz langsam fühlte ich mich zunehmend unwohl und ich weiß noch, dass ich auf Jamal und Nanna einredete, um sie wach zu halten, aber sie waren so müde, dass sie nach einigen Minuten einschliefen. Auch ich schloss die Augen, traute mich aber nicht, einzuschlafen. Als Jassar aufstand, blinzelte ich ihn an. Er hatte ein merkwürdiges Grinsen im Gesicht und schaute zu mir rüber. Hier, auf der anderen Seite der Matratzen, hatte ich mich sicher gefühlt, aber er schob Jamal vorsichtig ein Stück nach links, dann Nanna neben ihn und legte sich zu mir. Jetzt war die Erinnerung wieder da, mein schlimmster Albtraum holte mich ein.
Jassars Hand streichelte über meinen Bauch, bis nach unten zwischen meine Beine. Ich wollte etwas sagen, ein Geräusch machen, damit meine Geschwister wach wurden und er damit aufhörte,
innerlich schrie ich, aber ich brachte keinen Ton heraus. Als er sich aufrichtete, um meine Hose auszuziehen, schaute ich rüber zu meiner Schwester. Nanna hatte ein Lächeln im Gesicht, auch ihre Lider zuckten ein bisschen. »Bitte, bitte, wach auf!«, flehte ich innerlich. Aber dann bekam ich Angst davor, dass sie die Augen öffnete und alles sah: Keiner sollte es erfahren, so sehr schämte ich mich.
Es vergingen einige Wochen, in denen ich Jassar aus dem Weg ging. Ich hatte viel zu viel Angst, dass es noch mal passieren könnte, und ich wollte ihm nicht die geringste Chance dazu geben. Wenn ich mit seiner Schwester Fatima spielen
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