Das Mädchen, das nicht weinen durfte
Eindrücke ließen uns Kinder vergessen, warum wir überhaupt hier waren. Wir fühlten uns so wohl zwischen all den Spielkameraden, die ganz anders waren als unsere ehemaligen Klassenkameraden in der Privatschule. Hier hatte Lernen nichts mit Büchern zu tun; statt das Alphabet oder das Einmaleins zu pauken, lernten die Kinder, wie man auf Bäume klettert, Ziegen melkt, Wasser aus dem Brunnen holt, die Mädchen außerdem auch, wie man kocht, und alle, auf welchem Friedhof es die besten Verstecke gab. Sie sangen somalische Lieder und konnten den Koran im Schlaf aufsagen. Diese Kinder schienen glücklich zu sein, und ich wollte unbedingt zu ihnen gehören, denn es war wunderschön, einfach nur zu toben und durchs Dorf zu rennen bis zum späten Abend.
Statt der uns bekannten Art der Schule gab es hier eine Koranschule. Die Stunden wurden in einer kleinen Hütte aus Blechplatten abgehalten. Der Lehrer suchte einen Schüler zum Vorlesen aus und die anderen sprachen ihm die Verse laut nach. An meinem ersten Schultag bekam ich ein flaches, langes Stück Holz in die Hand, das zurechtgeschnitzt war, dazu gab es ein Stück Kohle, das vorn spitz war, und einen winzigen Behälter mit ein bisschen Wasser. Die Kohlespitze musste man in das Wasser tunken, um damit auf das Holzstück schreiben zu können.
Unten, am Anfang des Dorfes, gab es eine große, unbebaute Fläche, auf der wir Kinder spielten. Der Boden war sandig, sodass man sich nicht verletzte, wenn man hinfiel. Eines Tages wollten wir gerade die Gruppen einteilen, um Fangen zu spielen, da hörten wir Geschrei. Im Dorf war es zwar immer laut, gerade um diese Zeit am frühen Abend, wenn die Sonne unterging, trafen sich alle vor ihren kleinen Häuschen. Aber diesmal war es lauter als sonst. Ich reckte mich, um zu schauen, ob ich einen Blick erhaschen konnte, was da los war. Und dann sah ich es: ein Kamel!
An seinem Maul war eine Schnur befestigt, an der ein Mann das Tier hinter sich her zog. Um das Kamel herum waren viele
Männer, die nervös hin und her sprangen und versuchten, das Tier in den Griff zu bekommen, aber es zappelte wild herum und riss an der Leine. Es war ein schönes Tier mit einem prächtigen, kräftigen und langen Hals, sein Fell schimmerte warm in der rötlichen Abendsonne. Ich hatte noch nie zuvor ein Kamel gesehen und schaute es ehrfürchtig an. Immer mehr Dorfbewohner kamen angerannt, um das Spektakel zu beobachten. Dann trat ein Mann an das Kamel heran, holte mit beiden Armen weit aus und schlug ihm mit einer Axt in den Hals. Ein dicker Blutstrahl spritzte heraus, der Todesschrei des Kamels ging im Gejohle der Dorfbewohner unter, seine Vorderbeine knickten ein und es brach zusammen. Es war tot. Sein Fell wurde abgezogen und das ganze Kamel zerlegt. Ich erschauerte bei diesem Anblick und lief nach Hause. Noch Tage später, als sein Fleisch verzehrt und das Fest längst vorüber war, war der Sand von seinem Blut getränkt.
Bei den Gesprächen der Mädchen in meinem Alter konnte ich fast nie mitreden. Obwohl ich in meinen jungen Jahren schon drei Sprachen sprechen konnte und um die halbe Welt gereist war, merkte ich, dass mir all das nicht viel nützte, um bei diesen Kindern dazuzugehören. Vieles aus meiner Kultur wusste und kannte ich nicht, und das grenzte mich aus. Meine Tanten, von denen einige in meinem Alter waren, versuchten mir alles beizubringen. Vor allem Muna war dabei sehr verständnisvoll. Sie machte sich nicht lustig über mich, wenn ich Fragen stellte, die in ihren Augen ziemlich blöd gewesen sein müssen. Geduldig und mit einem aufmunternden Lächeln erklärte sie mir immer alles, soweit sie es selbst wusste.
Einmal lungerten wir nachmittags mit Inan an unserem Lieblingsplatz an der Hauswand herum, wo es angenehm schattig war. Wir quatschten ein bisschen miteinander und sahen eine Ziege, die durchs Dorf irrte. Sie hatte ein weißes Fell mit zwei kleinen dunklen Flecken an der Seite, ihre Euter waren voll und hingen herab.
»Hast du schon mal eine Ziege gemolken?«, fragte mich Muna.
»Nein«, antwortete ich und wie auf ein Signal hin sprangen wir drei gleichzeitig auf und rannten zur Ziege. Wir umzingelten sie, sodass sie nicht entwischen konnte. Inan, die Mutigste von uns allen, packte die Ziege am Kopf, Muna flitzte ins Haus und kam kurz darauf mit einer kleinen, silbernen Schale zurück, die sie mir in die Hand drückte.
»Halt das mal da drunter!« Sie bückte sich, packte mit beiden Händen das Ziegeneuter und knetete es.
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