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Das Mädchen, das nicht weinen durfte

Titel: Das Mädchen, das nicht weinen durfte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khadra Sufi
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nicht mal Gewürze, die den Reis etwas schmackhafter hätten machen können. Einmal fuhren mein Vater und ich mit dem Auto zu einer Familie außerhalb, die ein paar Lebensmittel gelagert hatte und sie zum Verkauf anbot. Papa huschte schnell ins Haus und nach ein paar Minuten kam er mit einem großen Kanister voll Öl in der Hand und einer großen silbernen Büchse unterm Arm raus, mehr gab es nicht mehr. Er lud beides ins Auto und fuhr los. Ich schnappte mir die Büchse, versuchte den Deckel mit den Fingernägeln zu öffnen und nach ein paar Versuchen gelang es mir auch. Sie war randvoll mit braunem Zucker, der goldig glänzte. Ich nahm mir ein wenig heraus und ließ ihn auf meiner Zunge zergehen. Was für ein herrliches Gefühl!

    Dann wurde das Wasser im Dorf knapp, auch der Wasserverkäufer kam nicht mehr. Die Frauen mussten deshalb stundenlang bis zum nächsten Brunnen marschieren und das Wasser in Eimern auf dem Kopf nach Hause schleppen. Natürlich half ich mit, denn jede Hand, die einen Eimer tragen konnte, wurde jetzt gebraucht. Ich hatte keine Ahnung, wohin wir laufen mussten, ich folgte einfach den anderen Frauen. Ganz früh morgens machten wir uns auf den Weg, mit den leeren Krügen in der Hand. Während wir so liefen, musste ich an die Frau denken, der ich damals mit dem Wasserschlauch vor meiner Haustür so eine Freude gemacht hatte.
    Unsere Füße wühlten beim Laufen den Sand auf und meine Beine waren schon ganz verstaubt und dreckig, als wir nach etwa zwei Stunden Fußmarsch den Brunnen erreichten. Ich hielt mich am Rand fest und schaute hinunter. Es war dunkel da drin und ich konnte nicht erkennen, wie tief er war. Neben dem Brunnen lag ein schwarzer, kleiner Behälter aus Plastik, der an einem braunen Seil hing, das schon ganz zerfleddert war. Ich führte das Seil mit dem Behälter hinab, tiefer und tiefer, bis er aufschlug. Dann bewegte ich das Seil hin und her, damit sich der kleine Eimer mit Wasser füllte. Ganz vorsichtig zog ich ihn wieder rauf, aber er war nur zur Hälfte gefüllt und so dauerte es sehr lange, bis wir uns in der brennenden Sonne wieder auf den Weg zurück machen konnten.

Die Odyssee geht weiter
    Das massive schwarze Tor bebte, als mein Vater mit den Fäusten dagegendonnerte. »Macht auf! Macht die Tür auf!«, rief er, und als ich öffnete, stürmte er an mir vorbei. Seine Brille mit dem breiten, schwarzen Gestell hing ihm schief im Gesicht, ein Glas war gesprungen. »Gott sei Dank«, stöhnte Papa und rang nach Luft. »Sie wollten mich umbringen!« Auch meine Mutter war herbeigeeilt,
und Papa ließ sich erschöpft auf einen kleinen Holzstuhl fallen.
    An diesem Morgen war er vom Präsidenten Siad Barre beauftragt worden, zum Flughafen zu fahren, um einigen Somalis bei der Ausreise zu helfen. Um wen genau es dabei ging und wohin sie ausreisen wollten, weiß ich nicht, aber es müssen Menschen gewesen sein, die gültige Papiere besaßen. Neben einem Ausreisestempel, den sie direkt am Flughafen erhielten, brauchten sie noch die Unterschrift meines Vaters als endgültige Genehmigung. Aber es warteten sehr viel mehr Menschen als erwartet neben der Rollbahn am einzigen Flugzeug, und nicht alle hatten gültige Papiere. Als sie von den Soldaten abgewiesen wurden, hatten sie sich auf meinen Vater gestürzt. Er hatte versucht, ihnen zu erklären, dass seine Unterschrift allein sie nicht zur Ausreise berechtigte, aber sie wollten ihm einfach nicht glauben.
    »Und dann sind sie auf mich losgegangen, haben auf mich eingeprügelt.« Zum Glück konnte er ihnen mit der Hilfe eines Kollegen entkommen, der ihn auch zurück nach Sheikh Sufi gebracht hatte. Jetzt erwartete mein Vater nicht mehr, dass wir bald in unser Haus in Lido zurückkehren konnten, deshalb sollte Jassar unsere letzten Habseligkeiten hierherholen. Jamal und ich durften ihn begleiten und, als wäre nie etwas passiert, fuhr ich mit. Wir freuten uns, endlich unser Haus wiederzusehen. In meinem Büro hatte ich in der obersten Schublade des Aktenschranks noch den roten Nagellack liegen gelassen, den eine Schulfreundin mir zum Geburtstag geschenkt hatte. Ich liebte seine kräftige Farbe, die auf den Fingernägeln so schön glänzte. Außerdem wollte ich ein paar Stifte zum Malen mitnehmen.
    Als wir unserem ersten Haus, das die italienische Familie bewohnt hatte, immer näher kamen, sahen wir, dass das blaue Tor weit aufgerissen war. »Hattet ihr nicht abgeschlossen?«, fragte Jassar. Doch, das hatten wir! Ich war dabei gewesen,

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