Das Mädchen, das nicht weinen durfte
Schüsse gefallen, aber sie hatten den ganzen Dorfbewohnern ihr Bargeld abgenommen.
5.
WEITER AUF DER FLUCHT
Es war Zeit, weiterzuziehen. Wir flüchteten vor der Gewalt, vor den Clans, die einander bekämpften, vor dem Chaos, das das ganze Land zu vernichten drohte. Ich weiß nicht mehr, wie viel Elend und Zerstörung ich jetzt schon gesehen hatte, an wie vielen Flüchtlingen wir vorbeigefahren waren. Ich verstand auch nicht, warum das alles passierte, aber ich wusste doch, dass es jeden Tag um unser Leben ging.
Barawe ist eine Stadt 200 Kilometer südlich von Mogadischu, hier ist mein Vater geboren worden. Er wuchs dort in einem winzigen Haus auf, das am Meer lag.
Hier würde uns nichts passieren, glaubte er, denn Barawe war bisher vom Krieg verschont geblieben. Wir waren in Sicherheit und mit dem letzten Tropfen Benzin im Tank hatten wir es bis hierher geschafft.
Vaters Schwester wohnte immer noch im Elternhaus. Sie hatten sich Jahre nicht gesehen und sollten sich stundenlang unterhalten. Meine Tante erzählte gern jedem - auch dem, der es nicht hören wollte - von ihren zahlreichen Krankheiten. Nachdem sich alle begrüßt hatten, ging ich vor die Tür, um zu sehen, wie Papa aufgewachsen war. Ringsherum standen überall die gleichen einfachen, kleinen Häuser und Hütten aus Lehm mit Wellblechdächern. Die Straßen waren nicht befestigt und mit grobem, orangefarbenem Sand bedeckt. Plötzlich schlug ein Stein neben
mir auf. Ich zuckte zusammen und schaute mich um, konnte aber niemanden sehen. Während ich noch überlegte, ob ich nicht zurück ins Haus rennen sollte, knallte schon der nächste Stein gegen eine kleine Metalltür am Haus neben mir. Ich hörte Laufschritte und heiseres Lachen. Diese Stimme kannte ich doch! Ich konnte sie aber nicht gleich zuordnen. Ich blickte mich um. Plötzlich sah ich jemanden zwischen zwei Häusern durchhuschen. Er versteckte sich hinter der Wand: Amir! Mein Schulfreund und Schwarm aus Mogadischu kicherte, als ich auf ihn zurannte. Seine Familie war auch hierher geflohen. Jetzt konnte ja gar nichts mehr schiefgehen, mein Freund war da und es waren weit und breit keine Schüsse oder Bombeneinschläge zu hören, die uns nachts aus dem Schlaf gerissen hätten.
Wir schliefen zu sechst in einem kleinen Zimmer. Eines Abends ging mein Vater Freunde besuchen, alle wollten ihn sehen, hofften vielleicht auch, dass er neue Informationen haben würde, die ihnen die Angst nehmen konnten. Als es Zeit zu schlafen war, wollte ich nicht, dass meine Mutter die Petroleumlampe löschte. Ich hatte ohnehin Angst im Dunkeln, ganz besonders aber, wenn Papa nicht da war. Ich wartete auf ihn, doch er kam einfach nicht nach Hause. Ich malte mir in den schlimmsten Bildern aus, was mit ihm passiert sein konnte, und fing an zu weinen, weil ich dachte, sie hätten ihn erschossen.
»Ohhh, Khadra, wein doch nicht wie ein kleines Mädchen. Was hast du denn bloß?« Meine Cousine Seta war ins Zimmer gekommen. Sie hatte sich seit unserer Zeit in Ostberlin sehr verändert. In ihrer Zweizimmerwohnung dort war sie ein kleiner Wirbelwind gewesen, der die pure Unabhängigkeit und Lebensfreude ausstrahlte. Ich hatte zu ihr aufgeschaut, damals. Aber seit ihrer Zwangshochzeit mit dem alten Mann waren ihre Gesichtszüge strenger geworden. Er hatte sie nach Somalia zurückgebracht und dann allein hier bei ihrer Mutter gelassen, während er im Ausland war. Ich wollte mich an diesem Abend nicht von ihr trösten
lassen, denn ich war fest davon überzeugt, dass meinem Vater etwas zugestoßen war. Aber dann stand er in der Tür. »Njunja!« Er setzte sich auf meine Matratze, nahm mich in den Arm und ich schluchzte in sein Hemd. Ich hörte die Stimmen im Hintergrund, alle redeten laut durcheinander: »Da ist er ja endlich! Basi, deine Tochter spielt verrückt. Sie hat sich Sorgen gemacht.« Auch Cousine Seta war erleichtert. »Siehst du, Khadra! Da ist dein Vater. Es war doch nicht nötig, dass du so viel weinst.« Aber nur Papas sanfte Stimme konnte mich beruhigen. Er wiegte mich in seinen Armen, und ich fühlte mich sicher.
Die Gefahr wächst weiter
Wir waren einige Wochen bei meiner Tante, als auch Jassar dort auftauchte. Er sah mitgenommen aus, seine Haare waren genauso verstaubt wie seine Kleidung, unter seinen Augen hatte er dunkle Ringe und sein Gesicht war eingefallen, weil er tagelang weder gegessen noch getrunken hatte. Ich hatte ihn noch nie so müde und ernst gesehen. Wir setzten uns um ihn herum vors Haus und
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