Das Mädchen, das nicht weinen durfte
Anfangs kam nichts raus, doch nachdem sie die Bewegung einige Male wiederholt hatte, spritzte ein langer, weißer Strahl in die Schale. Ein paar Tropfen Ziegenmilch landeten auf meiner Hand und ich wischte sie an meinem Kleid ab. Jetzt wurde ich ungeduldig.
»Ich will auch mal!« Muna rutschte zur Seite und hielt mir die Zitzen hin.
»Hier, nimm!« Vorsichtig nahm ich die langen Zitzen in meine Hände und zog sanft an ihnen. Sie fühlten sich sehr weich an und ich hatte Angst, der Ziege wehzutun. »Du musst fester drücken, zieh ein bisschen stärker!«, wies mich Muna an. Es dauerte eine Weile, bis ich es richtig machte, aber endlich schoss die Milch heraus. Ich fand meinen Rhythmus und nach wenigen Augenblicken füllte sich der Behälter. Es war, als ob ich noch nie etwas anderes gemacht hätte.
»Määäääh!«, beschwerte sich die Ziege jetzt erstmals.
»Beeil dich, sie wird schon ganz ungeduldig!«, rief Inan, die immer noch den Kopf festhielt. Lachend ließ ich mich nach hinten in den Sand fallen, Inan ließ die Ziege los und die trottete davon. Ich konnte mich nicht mehr halten vor Lachen und steckte die anderen an, die mit dem Finger auf mich zeigten, weil ich mich anfangs so ungeschickt angestellt hatte.
An einem anderen Tag trafen wir auf Mädchen aus dem Dorf, die aufgeregt tuschelten, aber ich verstand nicht, worüber. »Seynab ist beschnitten worden«, erzählte Muna.
»Wieso Seynab?«, fragte ich in die Runde. Bisher wusste ich nur davon, dass Jungen beschnitten wurden, so wie meine Brüder nach ihrer Geburt.
»Ja, Seynab ist vor ein paar Tagen beschnitten worden«, wiederholte Muna.
»Aber Seynab ist doch ein Mädchen«, sagte ich verständnislos.
»Na und?«, entgegnete sie. »Mädchen werden doch auch beschnitten. Wir sind alle beschnitten. Du etwa nicht?« Ich überlegte kurz, denn ich hatte Angst, dass alle mich wieder auslachen würden.
»Nein, bin ich nicht.« In dem Moment, in dem ich es ausgesprochen hatte, schämte ich mich dafür und fühlte mich minderwertig. Alle Mädchen um mich herum waren beschnitten, nur ich nicht. Es kam mir vor, als ob irgendetwas nicht richtig war an mir. Die anderen Mädchen sahen mich ungläubig an.
»Du bist nicht beschnitten?! Aber du musst doch beschnitten werden, alle Mädchen müssen das!«
Am Abend sprach ich meinen Vater darauf an.
»Papa, warum bin ich noch nicht beschnitten?« Er schaute mich irritiert an, die Frage schien ihm unangenehm zu sein, denn anders als sonst überlegte er erst, bevor er mir antwortete.
»Ihr wart noch zu jung.« Ohne auch nur eine Ahnung zu haben, wovon ich redete, ließ ich nicht locker, denn ich wollte zu den anderen Mädchen gehören.
»Ich will mich aber beschneiden lassen.« Ich war fest davon überzeugt, dass ich das Richtige wollte und dass er stolz auf mich sein würde, wenn ich ihn daran erinnerte. Doch er vertröstete mich.
»Irgendwann mal.« In den folgenden Wochen sprach ich ihn noch einige Male darauf an, doch seine Antwort war immer die gleiche: »Irgendwann mal, Njunja, irgendwann mal.« Nach einiger Zeit vergaß ich zu fragen, wohl auch, weil meine Freundinnen schnell vergessen hatten, dass ich die Einzige war, die nicht
beschnitten war. Ich glaube, dass ich ihn damals in Verlegenheit gebracht habe. So religiös er auch war, er muss im Zwiespalt gewesen sein mit einigen Ritualen und Lehren unserer Kultur, um meinen Schwestern und mir diese grausame Entstellung unserer Weiblichkeit zu ersparen. Und noch Jahre später, nach unserer Rückkehr nach Deutschland, hat er es nie wirklich begründet.
»Nee, nee, die Mädchen nicht, das wollte ich nicht«, meinte er nur immer, wenn es zur Sprache kam.
Wir wollten nur vorübergehend in Sheikh Sufi bleiben, wir hatten ja die Hoffnung, bald wieder in unser Haus in Lido zurückkehren zu können, sobald die Aufständischen zurückgedrängt waren. Doch aus Tagen wurden Wochen und aus Wochen wurden Monate und wir waren immer noch hier. Und obwohl der Krieg diese kleine Welt noch nicht mit seinen Grausamkeiten eingefangen hatte, hatten viele Angst, in andere Stadtviertel zu gehen, weil es dort viel zu gefährlich war. Die Nachrichten von blutigen Kämpfen und vielen Toten drangen immer öfter zu uns, auch ich bekam es mit, wenn ich den Gesprächen der Erwachsenen lauschte.
Nach und nach wurden aber bei uns die Lebensmittel knapp, auf den Märkten im Ort bekamen wir fast nichts mehr zu kaufen. Es gab kein Fleisch mehr zu essen, auch keinen Fisch oder Gemüse,
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