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Das Mädchen, das nicht weinen durfte

Titel: Das Mädchen, das nicht weinen durfte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khadra Sufi
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er begann zu erzählen. In Sheikh Sufi, wo wir zuvor Zuflucht gesucht hatten, hielten jetzt Soldaten die Stellung. Sie belagerten den gesamten Stadtteil, plünderten die Häuser, vergewaltigten die Frauen und nahmen den Bewohnern das letzte bisschen Essen und Wasser weg, das sie noch hatten.
    Jassars Bruder, der liebste und vernünftigste seiner neun Geschwister, war tot. Er war am frühen Morgen auf dem Weg zur Moschee gewesen, um zum Gebet aufzurufen. Oft hatte ich seiner melodischen Stimme gelauscht, die ungewöhnlich weich für einen so jungen Mann klang. Seine Worte schwangen über Lautsprecher durchs ganze Dorf, man spürte seine Ehrfurcht vor Gott und seine Hingabe in den Gebeten. Sie hatten ihn einfach erschossen und im Sand liegen gelassen. Quer durchs Dorf liefen
sie und töteten wahllos Menschen, sogar den alten, taubstummen Mann, der immer nachmittags draußen auf der Bank vor seinem Haus gesessen und versucht hatte, uns Kinder mit verrückten Grimassen zum Lachen zu bringen. Das war erst zwei Monate her.
    »Ich wollte die Straße überqueren, als plötzlich Schüsse fielen. Ich rannte sofort zurück und ging hinter einem Haus in Deckung. Ein Scharfschütze hatte sich irgendwo am Ende der Straße verschanzt und ballerte auf alles, was sich bewegte.« Jassar musste aber auf die andere Straßenseite kommen, um zu fliehen. »Ich war mir sicher, dass er mich treffen würde, aber ich hatte keine andere Wahl, als zu laufen.« Während er sprach, konnte ich ihn dort hinter der Hausmauer in Deckung sehen. Er lief um sein Leben, ich hörte die Schüsse, die durch die Häuserschlucht hallten. Aber sie verfehlten ihn.
    Jassar hörte auf zu erzählen, er schüttelte nur den Kopf, denn er konnte selbst nicht begreifen, wie er überlebt hatte. Ich aber fragte mich, ob das, was er durchgemacht hatte, Gottes Strafe für seine Sünden war. Dann erzählte Jassar weiter. »Vor unserem Haus lagen Leichen tagelang in der prallen Sonne. Sie räumen sie nicht weg, weil es Feinde waren. Dieser Krieg kennt kein Erbarmen.«
    Nachdem auch Jassar jetzt hier wohnte, war das Elternhaus meines Vaters zu klein für uns alle. Noch am selben Tag packten wir unsere paar Sachen und zogen in das Haus eines Bekannten, das schönste, das ich seit Langem gesehen hatte. Schon von Weitem sah man es mit seinen zwei Stockwerken aus der Menge der anderen Häuser herausragen. Es war weiß und im mediterranen Stil gebaut. Die Eingangstür hatte zwei große Flügel und war aus dunkelbraunem Holz, und ich erinnere mich noch an den angenehm kühlen Marmorboden im Erdgeschoss. Eine schmale Treppe führte ins obere Stockwerk. Dort war ein großer Raum, von dem ein Badezimmer mit weißen Fliesen abging. Es hatte sogar eine Toilettenschüssel, statt nur ein Loch im Boden, und eine Duschkabine.

    Es gab, wie fast überall in Somalia, kein fließendes Wasser, sondern eine Tonne, die mit Brunnenwasser gefüllt wurde. Mit einer Kelle scheffelte man sich Wasser zum Waschen heraus. Seit Ausbruch des Bürgerkriegs war Wasser aber ohnehin knapp, sodass wir uns nicht wie gewohnt ausgiebig waschen konnten. Ich erinnerte mich daran, dass ich zuletzt in unserer Villa in Ostberlin in einer vollen Badewanne gelegen hatte: Wie schön das warme Wasser war und wie gern ich mit meiner kleinen Quietscheente darin geplanscht hatte!
    Wir freuten uns alle, endlich wieder ein Haus für uns allein zu haben, denn wir konnten ja nicht ahnen, wie sehr wir diesen Umzug noch bereuen würden.
    Papa begann sofort auszupacken. Das war für mich das Signal, auch meinen pinkfarbenen Scout-Ranzen auszuräumen. Ich hatte ihn nicht aus den Augen gelassen, seit Papa ihn mir damals am Flughafen gekauft hatte, um mir die Abreise aus Deutschland zu erleichtern. Der Ranzen hatte schon etwas gelitten, vor allem hatte ich ihn mit römischen Ziffern bekritzelt, um im Mathe-Unterricht drauf spicken zu können. Ich mochte Rechnen nie und war nicht besonders traurig darüber, dass ich schon seit fast einem Jahr nicht mehr zur Schule gehen konnte. Dennoch hatte ich einige Schulbücher und Hefte im Ranzen gelassen und all meine Zeugnisse seit der Zeit in der Schule der Solidarität waren ebenfalls darin verstaut.
    Beim Stöbern im Scout fiel mir nun das olivgrüne große Fernglas in die Hände, das ich Papa abgeschwatzt hatte. Ich ging zum Fenster, während ich ihn im Bad mit einer Plastiktüte rascheln hörte. Nachdem ich die Linse richtig eingestellt hatte, war ich begeistert, wie deutlich ich die fernen

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