Das Mädchen, das nicht weinen durfte
Nacht, als er mit sanfter Stimme flüsterte: »So etwas würde ich niemals tun, niemals.«
Wie hat er mir das nur antun können, das Unaussprechliche, Schlimme, von dem keiner wusste, nur er und ich? Eine Antwort darauf habe ich nie gefunden, bis heute nicht. Ich spürte Ekel in mir aufsteigen. Ich wollte nicht jetzt, hier am Straßenrand, diesem Mann in der Nacht wieder so nahe kommen, wollte ihn nicht berühren müssen. Aber mein Wille war durch die Strapazen schon lange gebrochen. Ich legte mich neben Jamal auf Jassars Schoß und schlief ein.
Am Morgen ging’s weiter und wir kamen erschöpft in Mogadischu an. Diktator Siad Barre war vor den Revolutionären geflohen und untergetaucht. Papa hatte für uns ein Haus gefunden, das direkt gegenüber der Villa des neuen Präsidenten lag. Mohammed Aidid hatte eine ganze Armee von Soldaten um sich und sein Haus geschart. In der Nacht brannte grelles Licht, das die ganze Straße erhellte. Die Soldaten unterhielten sich und lachten, außer ihnen sah man in diesen Tagen kaum jemanden lachen. Aber mir
war es egal, dass sie so laut waren, dass wir nur schwer einschlafen konnten. Ich spürte: Solange sie lachten, waren wir sicher.
Nach ein paar Tagen rief mich mein Vater: »Heute lernst du den Präsidenten kennen!« Ich war sehr aufgeregt und zog das einzige Kleid an, das ich hatte. Ich hatte es mir kurz vorher auf dem Markt gekauft, weil wir auf der Flucht immer weniger Sachen hatten retten können. Es war türkis, mit weißen Knöpfen. Dazu trug ich meine ziemlich abgenutzten, ehemals weißen Flipflops, die einzigen Schuhe, die ich noch besaß. Meine krausen Haare hatte ich mit etwas Wasser angefeuchtet und mit einem Haarreifen nach hinten gesteckt. Nur eine kleine Locke über der Stirn hatte ich herausgefummelt, so wie ich es bei meinem großen Bruder Farid abgeschaut hatte, als er die Thriller-Frisur von Michael Jackson imitierte. Er hatte Gel benutzt, bei mir musste ein bisschen Wasser reichen. Papa nahm mich an der Hand und wir gingen hinüber zum großen, grauen Tor der Präsidentenvilla, das offen stand. Als wir das riesige Büro des Präsidenten betraten, spürte ich den kühlen Windzug der Klimaanlage und bekam eine Gänsehaut. Mohammed Aidid stand von seinem Sessel auf, ging auf uns zu und schüttelte meinem Vater die Hand. Ich stand hinter Papa und beobachtete ihn genau. Er lächelte herzlich und mir fiel sein schneeweißes Gebiss auf. Er sah freundlich aus und ich wünschte mir so sehr, dass er uns unser friedliches Leben zurückgeben würde.
»Darf ich vorstellen? Das ist meine Tochter Khadra.« Der Präsident reichte mir die Hand und beugte sich zu mir herunter: »Salaam Aleikum! Wie geht es dir?«
»Aleikum Salaam, gut!« Bevor ich mehr sagen konnte, hatte er sich auch schon wieder abgewandt und während er sich weiter mit meinem Vater unterhielt, fühlte ich mich überhaupt nicht wahrgenommen. Dabei war ich Papas rechte Hand, da hatte sich der Präsident auch mit mir zu unterhalten! Außerdem hatte ich mich doch nur für ihn so hübsch gemacht …
Wenige Tage später standen Jamal und ich an einem Fenster unseres Hauses im ersten Stock. Von hier aus hatten wir eine gute Aussicht auf den Trubel in der Präsidentenvilla. Soldaten und Offiziere liefen ein und aus, und diesmal stand vor der Villa auf der Straße ein Panzer! Wir hatten noch nie einen gesehen. Er war so groß und mächtig und parkte nur ein paar Meter weiter schräg gegenüber an der Ecke, das Kanonenrohr auf uns gerichtet.
Ein Wachmann kam herüber. Er sah ganz mager aus, als er auf den Panzer kletterte. Oben auf dem Dach gab es einen runden Deckel, den er öffnete und durch den er hineinschlüpfte. Das musste der Fahrer sein! Wir waren gespannt, wie sich die Kettenräder gleich bewegen würden. Ganz langsam fing der Panzer an zu rollen, genau in unsere Richtung, so hatten wir ihn von hier oben noch besser im Blick. Er würde jetzt bestimmt die Straße runterrollen, die steil bergab ging, unter unserem Fenster vorbei. Der Panzer rollte immer schneller. »Jetzt muss er aber abbiegen!«, dachte ich. Plötzlich öffnete sich der Deckel und der Soldat kletterte hastig heraus und sprang ab! Aber der Panzer rollte immer weiter mit dem Kanonenrohr voran auf uns zu. Wir machten unsere Hälse ganz lang und schauten nach unten. Dann gab es einen irrsinnig lauten Knall und eine Staubwolke stieg auf. Der Panzer war durch die Hauswand mitten in unser Wohnzimmer gefahren.
Bild 13
Papa und ich während
Weitere Kostenlose Bücher