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Das Mädchen, das nicht weinen durfte

Titel: Das Mädchen, das nicht weinen durfte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khadra Sufi
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uns noch etwas zu essen davon«, sagte sie zu ihrer Ältesten, die den zerknüllten Schein mit ihren dünnen, langen Fingern nahm und dann zu überlegen schien, was sie davon als letzte Mahlzeit für sich und ihre Familie kaufen sollte. Sie taten mir leid und ich rannte zu meinen Eltern, die auf einer Sitzbank Platz gefunden hatten, während meine Geschwister umherliefen.
    »Papa, da drüben sitzt eine arme Frau«, sprudelte es aus mir heraus und ich erzählte ihm die ganze Geschichte. »Das ist ja traurig, wir sollten ihnen helfen«, sagte er, griff sich in die Hosentasche und zückte zwanzig amerikanische Dollar. »Bring ihnen das!« Als ich der Frau, die sich eben auf den Fußboden hingelegt hatte, den Schein hinhielt, sprang sie auf.
    »Hier, das soll ich Ihnen von meinem Vater geben.« Zögerlich griff sie nach dem Geld, so, als ob sie es nicht glauben konnte und noch nach Worten suchte, aber noch bevor sie etwas sagen konnte, rannte ich auch schon wieder davon.
    »Heute gehen wir in ein Restaurant!«, verkündete mein Vater, der immer noch auf der Bank saß, und wie aus einer Kehle schrien Nanna, Jamal und ich: »Ja, ja, jaaaaaa!« Auch meine Mutter strahlte übers ganze Gesicht und schaukelte aufgeregt Chuchu auf ihrem Schoß. Früher in Berlin waren wir oft essen gegangen, ich mochte am liebsten Kartoffelsuppe, Tintenfisch und Kaviar, den ich meinem Vater vom Teller mopste, und das Restaurant auf dem Fernsehturm, weil es sich drehte und uns der Blick hoch über der Stadt faszinierte. Daran musste ich denken, als mein Vater mit uns ins Flughafenrestaurant ging, das im obersten Stock war.
    Wir saßen direkt am Fenster, sodass wir die Lichter Nairobis sehen konnten. Wir bestellten eine gemischte Platte aus den Nationalgerichten
mit Ugali, ein Brei aus gekochtem Maismehl, Nyama Chomo, gegrillte Fleischsorten, und Sukuma Wiki, ein kohlartiges Gemüse, dessen Name so viel bedeutet wie »die Woche herumbringen«, sowie Samosas, knusprig gefüllte Teigtaschen. Als der Kellner die Teller abräumte, hatten wir uns seit Langem erstmals wieder die Bäuche richtig vollgeschlagen.
    Und es war ein ausgelassener Abend, an dem wir viel lachten und nicht ein einziges Wort über unsere Flucht oder unsere ungewisse Zukunft verloren. Zurück am Terminal suchten wir uns ein Plätzchen auf dem Boden und schliefen schnell ein, denn so kurios es klingen mag, es war ein richtig schöner Tag gewesen.
    Am nächsten Morgen warteten wir vergeblich auf den Weiterflug nach Ägypten. Wir konnten das Militärflugzeug vom Fenster aus sehen, aber die Crew und der italienische Botschafter tauchten nicht auf. Vor allem meinem Vater merkte man jetzt die Strapazen der letzten Monate an. Seine Beine schwollen im Laufe des Tages an und er bekam Fieber. Immer wieder schauten wir nach, wann der Flieger weiter nach Ägypten gehen würde, aber er stand nicht auf der Abflugtafel. Drei Tage und drei Nächte ging das so und meinem Vater ging es immer schlechter, bis er schließlich einen Schwächeanfall bekam und wir das Personal um Hilfe bitten mussten. Ins Krankenhaus wollte er nicht, weil er fürchtete, den Abflug zu verpassen, aber er durfte sich in einem separaten Aufenthaltsraum hinlegen.
    »Lieber Gott, bitte nimm mich erst zu dir, wenn meine Kinder in Sicherheit sind«, hörte ich ihn leise beten, und dieser Satz traf mich mitten ins Herz. Ich hatte ihn noch nie so schwach, so leidend gesehen und ich war sicher, dass er nun sterben würde. Die ganze Nacht tat ich kein Auge zu, aus Angst, er würde mich verlassen. Aber am nächsten Morgen ging es ihm etwas besser und Francesco kam, um uns mit in den Flieger zu nehmen. Endlich ging es nach Ägypten.

7.
    UND PLÖTZLICH ARM
    Unser neues Leben begann mit einer Busfahrt in Kairo Richtung Zentrum. Keiner sagte etwas. Wir hatten nichts, außer unseren Pässen und der Kleidung, die wir trugen. Mein Vater war immer noch erschöpft, saß aber aufrecht auf seinem Platz. Er hatte eine so stolze Körperhaltung, dass man ihn daran von Weitem erkennen konnte. Sein Kinn war leicht angehoben, die Schultern gestrafft, die Brust vorgestreckt, der Rücken gerade und der Blick nach vorn gerichtet. So saß er in Gedanken versunken und ich konnte seine Gedanken förmlich hören, denn seit Ausbruch des Krieges hatte er mir mehr und mehr seine Entscheidungen und die Hintergründe dafür erklärt. Heute denke ich, dass ich die Einzige war, die sich für all das interessierte, und dass er gespürt hat, dass ich mit nicht mal

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