Das Mädchen, das nicht weinen durfte
nach ihren alten Besitzern. Manche Teile musterte ich genau und stellte mir vor, wer sie wohl vorher getragen haben könnte. Meist waren uns Kindern die Sachen zu groß, trotzdem trugen wir sie, weil wir noch reinwachsen sollten. Aber auch mein Vater schwamm in den Anzügen, weil es keine in seiner Größe gab, aber das schien ihm egal zu sein, er band die Hosen später mit einem Gürtel fest oder hielt sie mit Hosenträgern hoch.
Für Damen gab es Kleider mit Blümchenmuster, die aussahen wie alte Gardinen, und in den wildesten Farben, quer und längs gestreift, mit großen und kleinen Motiven. Aber es beschwerte
sich keiner, Hauptsache, die Klamotten erfüllten ihren Zweck und waren warm. In großen blauen Mülltüten trugen wir sie in unsere Zimmer ins Asylantenheim und packten alles in den Holzschrank. Bevor ich aber die neuen Pullover und Hosen faltete, probierte ich noch aus, was am besten zueinander passte, denn ich wollte mich doch möglichst schick machen, da ich wieder in die Schule gehen durfte.
Später bekamen wir alle sechs Monate ein wenig Kleidergeld, das gerade reichte, um für jedes von uns Kindern eine Hose, ein Paar Schuhe und ein Oberteil zu bekommen. Meiner Mutter kaufte Papa auch eine Kleinigkeit, wenn etwas übrig blieb, aber meist trugen meine Eltern die Sachen aus der Altkleidersammlung und ich habe sie nie darüber klagen gehört.
In der Nähe des Asylantenheims gab es eine Schule und in diesem Gebäude gab es sowohl ein Gymnasium als auch eine Realschule. Mehr als zwei Jahre lang hatten Nanna, Jamal und ich durch die Kriegswirren und unsere Flucht keinen Unterricht mehr besucht. Wir hatten zwar viel darüber gelernt, wie man ums Überleben kämpft, aber Schulbücher hatten wir alle seit unserer Zeit in der English Private School in Mogadischu nicht mehr in der Hand gehabt.
Zunächst mussten wir einen Test absolvieren, bevor ich dem Gymnasium, Nanna und Jamal der Realschule zugeteilt wurden. Aber es war sehr schwierig für uns, im Unterricht dem Stoff zu folgen, obwohl unsere Lehrer viel Verständnis zeigten und nicht erwarteten, dass wir problemlos mitmachen konnten, sondern uns über die anfänglichen Schwierigkeiten hinweghalfen, bis wir uns angepasst hatten.
Leider half nicht alles, was gut gemeint war. Als ich in die Klasse kam, stellte mich meine Lehrerin so vor: »Das ist Khadra, unsere neue Mitschülerin. Khadra ist mit ihrer Familie aus einem Land geflohen, in dem es einen ganz schrecklichen Krieg gibt und wo die Menschen hungern müssen. Deshalb ist sie hier in
Deutschland.« Sie schielte ein bisschen und lächelte mich an, als ob sie mir gerade einen riesigen Gefallen getan hätte, ich aber schämte mich fürchterlich, weil mich alle in der Klasse anstarrten und ich mir blöd vorkam. Ich lief in die allerletzte Reihe, wo noch ein Platz frei war, und wollte am liebsten nur meine Ruhe haben.
In der Pause ging es jedoch weiter. Ein paar Kinder hatten sich um mich herum versammelt und stellten mir Fragen: »Woher kommst du? Warum ist bei euch Krieg? Wieso seid ihr nach Deutschland gekommen? Hattet ihr auch nichts zu essen?« Alle redeten hektisch durcheinander und ich versuchte die Fragen zu beantworten.
Ein Stück entfernt von der Gruppe stand ein Mädchen mit ihren Freundinnen und ihrer jüngeren Schwester. Sie hieß Valeria, ging in meine Klasse und erinnerte mich mit ihrem geflochtenen Zopf und dem Pony-Schnitt an eine Ballerina, obwohl sie eine Brille trug. Wie sich herausstellte, war sie sehr schlau, ein Ass in Mathe und konnte wunderbar zeichnen. Ich aber bewunderte sie vor allem, weil sie sich so elegant bewegte und immer süß gekleidet war.
Ich beobachtete, wie Valeria ihrer jüngeren Schwester etwas ins Ohr flüsterte und mit dem Finger auf mich zeigte. Dann hielten beide sich die Hand vor den Mund und kicherten. Die anderen in der Gruppe sahen mich auch an und lachten lauthals mit. Ich schaute an mir herunter und nahm meine viel zu großen Klamotten wahr. Jetzt fiel mir erstmals auf, wie schrecklich ich wirklich aussah. Ich sah mich unter den anderen Kindern auf dem Schulhof um und die Einzigen, die außer mir auf dieselbe Weise optisch aus dem schönen Bild herausfielen, waren meine Geschwister, die gerade miteinander spielten. Wir sahen erbärmlich aus, und so fühlte ich mich auch. Die Tränen liefen mir übers Gesicht, als es zur Stunde läutete und wir wieder in die Klassen mussten. Ich versuchte mich zusammenzureißen, aber es ging einfach nicht. Ich
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