Das Mädchen, das nicht weinen durfte
würde, spürte ich irgendwie, dass es hier nur besser werden konnte, und ich konnte es kaum erwarten, endlich da hinauszugehen und meine neue, alte Heimat wiederzuentdecken. Ich war wieder in Deutschland! Wie oft hatte ich mir das seit unserer Abreise aus Ostberlin gewünscht.
Mittlerweile saßen Papa, Mama und meine Geschwister zusammengedrängt auf einer Sitzbank inmitten der ganzen Flüchtlinge, die hier zu Hunderten mit uns in der Halle versammelt waren. Meine Mutter blickte verunsichert umher und saß ganz dicht neben meinem Vater, während sie die schlafende Chuchu nervös im Arm hin und her schaukelte. So sah meine Mutter immer aus, wenn sie einer unbekannten Situation ausgesetzt wurde. Beide sagten keinen Ton, aber ich merkte meinem Vater genau an, dass sein Kopf brummte, weil er so in Gedanken war und sich überlegte, ob er seine Familie jetzt wohl endgültig in Sicherheit gebracht hatte. Manchmal sprach er seine Gedanken und Sorgen laut aus, manchmal behielt er sie für sich, aber seinem Gesicht konnte man die Last ansehen, die er in sich trug. Er sah sehr erschöpft aus und es kam mir vor, als hätte er jetzt deutlich mehr graue Haare als noch vor wenigen Wochen. Sein Gesicht war
viel zu braun gebrannt von der prallen ägyptischen Sonne und seit unserer Flucht aus Somalia hatte er wie ein Löwe pausenlos gekämpft, um uns in Sicherheit zu bringen. Ich wünschte mir so sehr, dass er wieder glücklich werden würde, so wie noch vor nicht allzu langer Zeit, als er mich mit offenen Armen in seinem Armani-Anzug an der Tür empfangen hatte, sobald er von der Arbeit nach Hause kam.
Nachdem wir registriert waren, wurden wir zusammen mit den anderen Flüchtlingen gruppenweise in Bussen platziert, die uns in Unterkünfte brachten. Wir landeten mit unserem bisschen Hab und Gut, das wir in Plastiktüten mit uns trugen, in einem Asylantenheim in Bad Godesberg, das drei Stockwerke hatte. Wir wohnten im zweiten Stock. Vom Treppenhaus aus führten lange Flure nach links und nach rechts, auf denen jeweils vier Zimmer, eine Gemeinschaftsküche mit einem Herd und vier Kühlschränken sowie ein Gemeinschaftsbad lagen. Für jede Flüchtlingsfamilie gab es eigentlich nur ein Zimmer, aber weil wir zu sechst waren, bekamen wir zwei kleinere Zimmer: eins für meine Eltern und Chuchu, das andere für Nanna, Jamal und mich.
In jedem Zimmer standen die gleichen Möbel: ein Tisch mit zwei Holzstühlen, ein brauner Holzschrank und zwei Hochbetten aus silbernem Metall. Die Wände waren weiß gestrichen, sodass das Ganze ein bisschen wie ein einfaches Schullandheim wirkte. In einem der vier Kühlschränke in unserer Gemeinschaftsküche bewahrten wir unsere Lebensmittel auf. Wenn man die Lebensmittel darin nicht selbst schnell genug aufgebraucht hatte, dann nahm es ein anderer weg. Milch, Brot, Spülmittel, eigentlich alles, was man in der Küche liegen ließ, verschwand irgendwann, was nicht verwunderlich war, denn jeder konnte hier ein- und ausgehen. Deshalb horteten die Bewohner das Essen am liebsten in ihrem Zimmer, wenn es irgendwie ging.
Es gab auf jedem Flur nur ein Badezimmer, das man sich mit den anderen Familien teilen musste. Morgens war das ganz besonders
chaotisch, wenn alle Kinder zur Schule mussten und sich vorm Bad eine lange Schlange bildete. Der eine stand mit einem Handtuch über der Schulter und einem Stück Seife in der Hand vor der Tür und wartete ungeduldig, während ein anderer gerade auf dem Klo saß oder sich die Zähne putzte und wieder ein anderer unruhig von einem aufs andere Bein hüpfte, weil er auf die Toilette musste und es kaum noch aushalten konnte. Der Tag begann mit Hetzerei, jeder Tag.
Das anfänglich größte Problem war aber, dass wir keine geeignete Kleidung hatten. Der Winter begann und wir hatten nur unsere Lumpen, die wir aus Ägypten mitgebracht hatten und aus denen wir Kinder längst herausgewachsen waren, was jeder unschwer daran erkennen konnte, dass unsere Hosen »Hochwasser« anzeigten.
In der Altkleidersammlung, die in einer Art Garage untergebracht war, durften wir uns neu einkleiden, wobei für meine Geschwister und mich vor allem richtige Schuhe wichtig waren, weil unsere schon ziemlich drückten. Der Geruch in dem mit Kleidung und Spielzeug vollgestopften Raum war eine muffige Mischung aus Mottenpulver und Waschmittel und steckte in allen Klamotten, die wir uns wahllos griffen. Pullis, Hosen, Hemden und Schuhe: Obwohl die Sachen gewaschen oder gereinigt waren, rochen sie doch
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