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Das Mädchen, das nicht weinen durfte

Titel: Das Mädchen, das nicht weinen durfte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khadra Sufi
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im Mund angefeuchtet hatte, glitt es endlich durch das winzige Nadelloch.
    Es war kein Schrei, der mich aufschrecken ließ, eher ein tiefes, lautes Stöhnen, das ich noch nie zuvor gehört hatte, begleitet von einem undeutlichen »Oh mein Gott, lieber Gott, bitte nicht, bitte nicht«. Mit ausgestreckten Armen flehte mein Vater erst zur Decke, dann verdeckte er mit den Handflächen sein Gesicht, wodurch
das Stöhnen etwas leiser und noch dumpfer wurde. Dann holte er tief Luft und dabei zitterte sein ganzer Körper. Während ich langsam zu ihm schlich, versuchte ich zu begreifen, was geschehen war. Mein Vater bekam nicht mehr mit, was um ihn herum geschah, und ich verstand seine Körpersprache nicht, weil ich ihn noch nie so gesehen hatte.
    »Papa, was ist denn los?« Als ich an seinem Bett stand, sprach ich so leise, dass ich mich selbst kaum hören konnte, und die Laute, die mein Vater von sich gab, hätten ohnehin alles übertönt. Als er zu weinen begann, ahnte ich, wie schlimm das war, das passiert sein musste.
    »Papa, was ist denn los?«, fragte ich wieder zögerlich. Endlich drehte er seinen Kopf zu mir und blickte mich für eine Sekunde an wie ein Mann, der Hilfe sucht. Dann flüsterte er: »Wir haben unser Geld verloren. Alles ist weg.« Das Vermögen, das er auf der Bank in England angehäuft hatte, war weg, die Bank war nach einem Korruptionsskandal pleite, das war die Nachricht, die er im Radio gehört hatte. Wir hatten alles verloren, einfach alles, es gab kein Gold mehr, das wir verkaufen konnten, keinen Schmuck, nichts, wir waren arm. Noch am Abend wurde das Geld, das wir hatten, abgezählt und am Ende hielt er mir einen zerknüllten Schein vors Gesicht: »Mit fünf Pfund müssen wir jetzt jeden Tag auskommen«, sagte er. Es war die Summe, die ich bisher fürs erfolgreiche Lernen von ihm bekommen hatte, jetzt sollte ich damit die ganze Familie ernähren, aber ich wusste, dass ich es irgendwie schaffen würde.
    Am nächsten Morgen lief ich runter, um auf dem Markt fürs Essen einzukaufen, und trotz geschickten Feilschens mit den Händlern hatte ich mit nur fünf Pfund nicht viel Auswahl, sodass wir uns in den folgenden Wochen meist von ein paar Tomaten und Nudeln oder Reis ernähren mussten, bis wir nur noch ein paar Münzen hatten. Wir hatten zwar die Miete im Voraus bezahlt und somit noch einige Monate ein Dach über dem Kopf, aber wovon
sollten wir leben? Mein Vater schnappte sich sein kleines Adressbuch und wir gingen hinunter zur Telefonzelle.
    »Ich werde jetzt für die nächsten Tage ein paar Termine machen«, sagte er nur und wählte. »Hier ist Basi Mohamed Sufi«, sprach er in den Hörer. »Ja, ja, genau der. Ich würde mich gerne mit Ihnen treffen.« So ging das, Telefonnummer für Telefonnummer, bis er mehrere Verabredungen getroffen hatte und keine Münzen mehr besaß.
    Am nächsten Morgen zogen wir los und an einer belebten Straße sah ich Papas Bekannten schon von Weitem warten, weil er in der Menschenmasse auffiel. Er war Somalier und groß gewachsen, sah gepflegt aus in seiner beigefarbenen Stoffhose und dem Jeanshemd und hatte die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Sie gaben sich kurz die Hand, aber es war keine herzliche Begrüßung wie sonst üblich, wenn mein Vater Verwandte oder gute Freunde wiedersah. Diesen Mann kannte er offenbar nicht besonders gut. Wir gingen ein paar Schritte und ich hielt mich hinter ihnen, sodass ich im Trubel auf der Straße nur ein paar Wortfetzen mitbekam, aber verstehen konnte, dass sie englisch sprachen.
    »… und deshalb sind wir jetzt in einer Notlage … wir sind auf jeden Penny angewiesen …« Mein Vater bat diesen Mann um Geld, ausgerechnet er, der immer so stolz und großzügig gewesen war, der so vielen geholfen hatte, brauchte jetzt selbst Hilfe. Aber er schien sich nicht dafür zu schämen, er bettelte auch nicht, es wirkte eher wie ein Gespräch unter Geschäftsleuten, so wie ich ihn schon so oft gesehen hatte. Doch je länger es dauerte, desto zurückhaltender wurde der andere Mann, und plötzlich blieben sie stehen. Dann ging alles ganz schnell. Der Fremde griff in seine Hosentasche, drückte ihm etwas in die Hand, sie verabschiedeten sich noch schneller, als sie sich begrüßt hatten, der Mann eilte davon und mein Vater hielt mir einen grünen Geldschein entgegen.
    »20 Pfund!«, sagte er und lächelte mich an. »Hier, steck das ein.« Ich knüllte den Schein zusammen und steckte ihn in meine
Hose. So oder so ähnlich verliefen alle

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