Das Mädchen, das nicht weinen durfte
Kopf auf das Kissen legte, pochte mein Herz so stark, dass ich nicht einschlafen konnte. »Ganz ruhig, es ist nichts, ganz ruhig«, redete ich mir selbst zu. Dann riss mein Vater die Tür auf.
»Kommt raus, schnell, schnell, raus!« Wir sprangen von unseren Betten und rannten mit ihm die Treppe hinunter bis zur Eingangstür, wo meine Mutter mit Chuchu bereits wartete, und dann alle vors Haus auf die Straße. Aber es war nichts, gar nichts, keine Schüsse, keine Soldaten, kein Krieg, nur ein Plakat hing schräg an der Laterne und darauf stand: Schützenfest.
Seit unserer Ankunft in Deutschland hatten wir beim Schlafen in unserem Zimmer ein Licht angelassen. Geräusche wie eine Tür, die zugeknallt wurde, laute Stimmen, Klopfen oder eine andere Art von Lärm rissen uns leicht aus dem Schlaf. Und noch heute zuckt mein Körper und rast mein Herz, wenn mir jemand zum Spaß im Dunkeln auflauert, um mich zu erschrecken.
Wir richten uns langsam wieder in Deutschland ein
Mein Vater bekam Besuch von einem langjährigen somalischen Freund, der bei uns auf dem Weg nach Berlin Zwischenstopp einlegte. Da er kaum deutsch sprechen konnte, begleitete mein Vater ihn im Zug weiter bis in die Hauptstadt und man merkte ihm an, dass er froh war, wieder eine Aufgabe zu haben. Aber schon am Tag nach seiner Abreise wurde Chuchu sehr krank. Als ich nachmittags von der Schule nach Hause kam, hatte sie hohes Fieber, war ganz schwach und weinte. Meine Mutter wusste nicht, was sie tun sollte, und ich nahm Chuchu in die Arme und wiegte sie hin und her, um sie zu beruhigen. Aber sie hörte nicht auf zu weinen, und ich sang ihr ein Lied, während ich sie in die Gemeinschaftsküche trug. In unserem Kühlschrank war nur eine angebrochene Packung H-Milch und in den Wandschränken waren lediglich ein paar Scheiben Toast übrig geblieben, die ich nahm, obwohl ich nicht wusste, ob sie uns gehörten, aber das war mir in dem Augenblick egal. Ich war mir sicher, dass die Kleine bestimmt noch nichts gegessen hatte, und bröselte den Toast in eine kleine Schale mit der Milch, gab noch etwas Zucker hinzu und begann sie mit dem Brei zu füttern. Dann strich ich ihr noch ein bisschen über das Gesicht und die Haare. Ihre Augen wurden schwer und sie schlief ein. Ich legte sie auf Papas Bettseite und ging in mein Zimmer. Als ich in meinem Hochbett lag, musste ich daran denken, wie ich so klein gewesen war. Chuchu war auch ein Papakind, so wie ich, und ich glaubte, dass sie krank geworden war, weil er verreist war. Ich hatte immer versucht, ihr die Mutter zu ersetzen und ihr all die Zuneigung und Liebe zu geben, die ich selbst von meiner Mutter nie bekommen habe, aber erst die Rückkehr meines Vater machte sie wieder glücklich.
Es gab einen Tag im Jahr, den wir Kinder herbeisehnten: Es war der Tag, an dem mein Stiefbruder Karim und seine deutsche Frau Isabell uns an Weihnachten zu sich nach Hause einluden. An
Heiligabend holte Karim uns mittags mit dem Auto ab, während Isabell die Wohnung festlich schmückte. Wir zählten die Stunden, bis wir seinen Wagen im Hof hörten. Nach unserer Ankunft dort durften wir erst um 18 Uhr das große Wohnzimmer betreten, in dem ein leuchtender Tannenbaum stand und der ganze Boden voller Geschenke war.
Dieses Weihnachten war noch schöner als die Festtage, die ich aus der DDR kannte, denn jetzt feierten wir selbst auch Bescherung. Jedes Geschenk war liebevoll mit einem Namensschildchen versehen, wir verschlangen das leckere Essen, das Isabell zubereitet hatte, und am nächsten Tag durften wir Videos gucken, bevor wir wieder nach Hause fuhren. Am liebsten schaute ich Pippi Langstrumpf, denn sie fürchtete sich vor niemandem und nahm es mit jedem auf, der ihr gegen den Strich ging.
Zu Weihnachten fielen alle Sorgen von uns ab, und wir waren einfach eine glückliche Familie, sogar meine Mutter saß freudig erregt neben meinem Vater auf der gemütlichen Couch, während er sich stundenlang mit Karim und Isabell unterhielt. An der Wand über ihnen hing ein wunderschönes Gemälde von einer afrikanischen Frau, die einen weißen Umhang trug und vor einer Bananenplantage saß. Papa hatte es in unserer Ostberliner Zeit gemalt, in der er sich zum Malen zurückgezogen hatte, wann immer ihm die Zeit dafür blieb. Er war ein großartiger Maler und ich hatte mir damals vorgenommen, ihm eine Staffelei zu schenken, damit er wieder mit dem Malen anfangen konnte.
Auf meine Schule ging noch ein anderes somalisches Mädchen. Sie hieß Nima und
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