Das Mädchen, das nicht weinen durfte
eine Dampfwolke den leckeren Geruch von Hühnerfrikassee verbreitete, das die Erzieherinnen gerade kochten, und schräg gegenüber gab es eine Art Spielecke mit Lego-Bausteinen, Bällen, Puppen und einer kleinen Tafel, auf die jemand mit bunter Kreide Blumen gemalt hatte. Den Flur entlang waren die Zimmer verteilt, aus manchen Türen drang Musik, andere waren verschlossen. Auf die Flurwand waren große bunte Tiere aufgemalt, Delfine, Giraffen oder Enten. Jedes Kind hatte sein eigenes Zimmer, das mit Postern und Kuscheltieren dekoriert war. Marie war sehr klein für eine 13-Jährige, trug noch dazu eine Brille mit besonders dicken Gläsern und mit ihrer piepsigen Stimme erklärte sie mir alles, während sie mich umherführte. Es gab sogar eine mit Smarties verzierte Torte für sie zum Geburtstag und ich hatte so viel Spaß hier, dass ich erstmals wieder ein Gefühl von Zuhause bekam und es mit meiner Familie teilen wollte.
»Meinst du, ich könnte mit meiner Familie auch zu euch ziehen?«, fragte ich Marie.
»Ja, klar!«, rief sie, und wir rannten zu ihrer Erzieherin, die eine Zeit lang brauchte, um uns klarzumachen, dass das nicht ging.
Im Asylantenheim wohnte eine vietnamesische Familie namens Chang über uns. Das war ihr Nachname, aber sie stellten sich alle nur mit Chang vor, egal, ob es die Eltern waren, die beiden Töchter oder die drei Jungs. Die beiden jüngsten Changs freundeten
sich schnell mit Nanna und der kleinen Chuchu an. Mein Kumpel war der mittlere Chang, ein sehr ruhiger, aber schlauer Junge, der mit mir ins Gymnasium ging. Vor dem Asylantenheim gab es eine kleine Wiese, auf der wir uns austoben konnten. Handstand war unser Lieblingsspiel und Nanna war darin die Beste, denn sie konnte sich einige Sekunden lang über Kopf in der Luft halten, bevor sie zurück auf die Beine kam. Der älteste Chang ging nachts manchmal joggen und ich bewunderte ihn für seinen Mut, denn ich konnte mir damals nicht vorstellen, im Dunkeln auch nur einen Fuß vor die Tür zu setzen. Es dauerte eine Zeit lang, bis ich mich in Deutschland sicher fühlte und keine Angst mehr hatte, nachts auf der Straße erschossen zu werden, obwohl ich natürlich wusste, dass es mir hier nicht passieren würde.
Eines Abends sah ich meinen Freund Chang mit seinem Bruder, dem größeren Chang, vom Fenster aus und rief ihnen zu:
»Hey, wohin geht ihr?«
»Wir gehen joggen, komm mit!« Ich zögerte ein bisschen, schnappte mir dann aber das einzige Paar Schuhe, das ich hatte, und rannte runter.
»Ihr müsst aber langsam laufen. Ich bin nicht so schnell«, sagte ich ihnen und wir liefen gemütlich um den Block. Die Straßen waren leer, nicht mal ein Auto fuhr vorbei, alle Wege waren beleuchtet und meine Angst wich mit jedem Schritt einem Gefühl von Sicherheit, das ich gar nicht mehr gekannt hatte und das mich erleben ließ, wie schön die Dunkelheit der Nacht sein konnte. Wir quatschten beim Laufen und scherzten herum. Nach ungefähr einer Stunde kamen wir zurück ins Asylantenheim und ich war so froh, dass ich den Mut gehabt hatte, mit ihnen laufen zu gehen, denn was für sie selbstverständlich gewesen war, war für mich ein Erlebnis.
Zwei Jahre später kam ich morgens in die Schule, alle Schüler und Lehrer standen auf dem Hof, einige weinten und der Unterricht fiel aus. Mein Freund Chang war tot. Er hatte sich von einem
Baugerüst auf der Rückseite der Realschule gestürzt. Es gab viele Gerüchte, warum er es getan hatte, aber den wahren Grund erfuhr ich nie. Ich fühlte mich elend, denn nur ein paar Tage zuvor hatte er mich um ein Markstück gebeten, aber ich hatte ihn nur kurz abgewimmelt. Erst nach seinem Tod fiel mir auf, dass er schon da einen sehr verwirrten und verlorenen Eindruck gemacht hatte. Warum nur hatte ich mir keine Zeit für ihn genommen?
Eines Morgens wurden wir durch einen fürchterlichen Lärm aus dem Tiefschlaf gerissen und richteten uns blitzschnell im Bett auf. An den Augen meiner Geschwister konnte ich erkennen, dass sie genauso ängstlich waren wie ich. Wir kannten diese Geräusche nur zu gut und auch diese Angst. Kein Zweifel, draußen fielen Schüsse. Für einen Moment war ich nicht sicher, wo wir waren, ob es nur ein schlimmer Traum war. Aber ich saß oben auf meinem Hochbett und die Gewehrsalven drangen durchs Fenster ins Zimmer. Ich kroch herunter und lugte hinaus. Der Morgen dämmerte, aber ich konnte nichts erkennen und die Schüsse verhallten. Ich kletterte wieder auf mein Bett und als ich meinen
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