Das Mädchen, das nicht weinen durfte
schnappte nach Luft und weinte und konnte gar nicht mehr aufhören.
Ich setzte mich nach hinten in die letzte Reihe auf meinen Platz, und die Lehrerin sah mich an: »Was ist denn los?«, rief sie.
»Nichts«, ich schüttelte den Kopf und blickte nach unten, damit sie mein Gesicht nicht sah, während ich mir die Tränen wegwischte. Aber mittlerweile schnappte ich schon laut nach Luft und kriegte es nicht mehr unter Kontrolle.
»Khadra, ich muss ja gleich mitweinen, jetzt sag doch, was los ist«, hakte die Lehrerin nach.
»Die lachen mich wegen meiner Klamotten aus«, schluchzte ich.
»Wer lacht dich aus?«, fragte sie. Ich konnte ihr nicht antworten, ich wollte es auch nicht und heulte nur. So schrecklich hatte ich in den ganzen letzten Jahren nicht geweint, aber jetzt brach alles aus mir raus, während meine Lehrerin auf die anderen Kinder einredete.
»Ihr dürft nicht so gemein sein!«, begann sie. »Es gibt Familien, die nicht so viel Geld haben, um sich teure Anziehsachen zu kaufen, deshalb darf man sie nicht auslachen.« Es dauerte eine Weile, bis ich mich wieder beruhigt hatte, denn an diesem Tag spürte ich erstmals, wie tief wir gesunken waren, und als der Unterricht zu Ende war, lief ich nach Hause, kletterte auf mein Hochbett und wollte nur allein sein.
Ich musste an die Schuluniformen denken, die wir früher getragen hatten, und dass mein Vater mir damals erklärt hatte, warum wir sie tragen sollten: Weil wir Schulkinder auf diese Art alle gleich waren und niemand an der Kleidung erkennen konnte, ob man arm war oder reich. Ich fühlte mich so wertlos und konnte einfach nicht begreifen, warum unser Leben sich so radikal ändern musste. All die Jahre, die wir in Somalia waren, hatte ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als endlich wieder nach Deutschland zurückzukehren. In meiner kindlichen Fantasie hatte ich nur Positives aus unserer Zeit in Ostberlin mit der Rückkehr in Verbindung gebracht. Aber jetzt fürchtete ich, dass unser Leben
nie mehr so werden würde wie vor dem Krieg. Obwohl wir hier sicher waren, wussten wir nicht, wie unsere Zukunft aussehen würde. Waren diese beiden Räume im Asylantenheim unser Zuhause? Wie würde es weitergehen? Zumindest in der Schule ließen sie mich von diesem Tag an in Ruhe, zumal ich mich zurückzog, um auf keinen Fall aufzufallen.
Je länger wir in Bad Godesberg waren, desto mehr kamen auch die Erinnerungen an das Erlebte hoch, die jeder von uns auf seine Weise verdrängt hatte, mit denen jeder selbst fertig werden musste. Bisher hatte keiner von uns die Gelegenheit gehabt, die schlimmen Eindrücke zu verarbeiten, weil es immer wieder neue Probleme gegeben hatte. Sicher, ab und an erinnerten wir uns gemeinsam an Vorfälle, aber es wurde in der Familie nie ausführlicher darüber gesprochen, vielleicht, weil es für alle zu schmerzhaft gewesen wäre, sich unseren Absturz vor Augen zu führen. Auch mein Bruder Farid, der durch das Auswandern nach Kanada von all diesem Leid verschont geblieben war, erfuhr in den Telefonaten mit uns nie, wie schlimm es uns wirklich ergangen war.
Die ganze Situation führte dazu, dass wir die meiste Zeit schweigend in uns gekehrt vor uns hin lebten. Ich sah auch meinen Eltern an, dass sie litten. Meiner Mutter ging es besonders schlecht, sie war oft teilnahmslos und müde, bekam Tabletten gegen ihre Albträume und Depressionen. In ihrem Gesicht war ständig die Furcht vor dem nächsten Schicksalsschlag erkennbar, und mein Vater, der sie immer aufgeheitert und mitgezogen hatte, wurde selbst von den Problemen fast erdrückt.
Um dieser Stimmung zu entfliehen, hielt ich mich immer so lange wie möglich in der Schule auf; nach meinem Unterricht in AGs, in denen wir Theater spielten - meine erste Rolle war eine Ziege - oder einander bei den »Leseratten« Bücher vorlasen. Gegen 16 Uhr musste ich dann gehen, ich fuhr die drei Stationen aber nicht mit der Bahn, sondern trödelte den Weg nach Hause
zu Fuß. In dieser Zeit dachte ich viel nach, am meisten bedrückte mich, dass ich Papa und meiner ganzen Familie nicht weiterhelfen konnte.
Marie, eine der wenigen Klassenkameradinnen, mit denen ich außerhalb der Schule Kontakt hatte, lebte im Kinderheim und lud mich eines Tages zu ihrer Geburtstagsfeier ein. Das Heim war ein großes Haus mit einer Holztreppe, die hoch zur Tür führte, hinter der die Eingangshalle lag, die von dicken Holzbalken umrahmt wurde. Von hier aus ging es zum Esszimmer mit einem riesigen Tisch, zur Küche, aus der
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