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Das Mädchen, das nicht weinen durfte

Titel: Das Mädchen, das nicht weinen durfte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khadra Sufi
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Verabredungen an diesem und den nächsten Tagen, mal gaben die Männer etwas mehr Geld, mal etwas weniger. Ich schaute ihn immer erwartungsvoll an und er hielt entweder den Daumen hoch, wenn er eine hohe Summe geschenkt bekam, oder er wippte mit seiner Hand hin und her, dann würde das Geld vielleicht zwei, drei Tage reichen. Abends legten wir dann alles zusammen und wussten, für wie lange wir uns etwas zu essen kaufen konnten. Ich war stolz, dass wir zwei so ein starkes Team waren.
    Wenn ich mich heute erinnere, wie meine Familie und ich all das durchgestanden haben, dann gibt es nur eine Antwort: Das Einzige, was wir hatten, das Letzte, woran wir uns festhalten konnten, war der Glaube an Gott. Uns war bewusst, dass jeder Einzelne von uns längst hätte tot sein können, aber wir waren alle sechs davongekommen, wir lebten noch, und das war das größte Geschenk und ein Zeichen Gottes, dass unsere Zeit noch nicht vorbei war.
    Ich selbst konnte nur noch daran denken, wie wir an Geld kommen und etwas zu essen bekommen konnten. Wenn ich mit den Tüten in der Hand die 17 Stockwerke hinauflief, schaute ich weder nach links noch nach rechts . » Geh weiter, Khadra, geh weiter, weiter, weiter …«, redete ich mir selbst zu. Ich beschwerte mich nicht, kannte keine Müdigkeit, keine Schmerzen, keine Tränen. Ich war zwölf Jahre alt und die Zeit der Gutenachtgeschichten, die ich früher so geliebt hatte, war vorbei, denn keine Geschichte der Welt hätte mich aus dieser Realität entführen können. Stattdessen bekam ich Albträume. Ängste und Sorgen verfolgten mich in der Nacht, bis unsere Gebete erhört wurden.
    All die Monate in Ägypten hatte mein Vater versucht, seine Kontakte in Deutschland für unsere Rückkehr zu nutzen und durch seine langjährigen Freunde Frauke und Manfred Obländer, die mit ihm vor einem Vierteljahrhundert die Deutsch-Somalische Gesellschaft gegründet hatten, sollten wir endlich Besuchsvisa
bekommen. Zurück ins einzige Land, an das ich positive Erinnerungen hatte, es war zu schön, um wahr zu sein, deshalb dachte ich nicht so oft daran, denn meine Enttäuschung wäre zu groß gewesen, wenn es nicht geklappt hätte. Aber dann wurde es schließlich doch wahr: Wir knapsten unser letztes Geld zusammen, um am Fotoautomat die Bilder zu machen - wir hatten die Tickets ins neue Leben!

8.
    EIN NEUES DEUTSCHLAND
    Ich starrte auf die Anzeige an der Wand, an der gerade die letzte Zahl mit einem Klack wechselte und aus der 5 eine 6 wurde. In hellem Grün leuchtete jetzt die 156 auf. Ich knüllte unseren Nummernbon auseinander, der in meinen verschwitzten Händen schon ganz durchgeweicht war, weil ich ihn verkrampft festhielt.
    »Pass gut auf den Bon auf. Wenn diese Nummer dort oben angezeigt wird, dann sind wir dran«, hatte Papa bei unserer Ankunft gesagt. Das war jetzt schon drei Stunden her und es würde noch einige Stunden dauern, bis wir an der Reihe waren, denn auf unserem Bon stand die Nummer 321.
    Wir waren jetzt schon einige Wochen in Deutschland und bei Freunden untergekommen, aber nun waren unsere Touristenvisa abgelaufen und wir mussten Asyl beantragen. Ich war immer noch so aufgeregt, weil alles um mich herum deutsch war, es war so spannend, die Straßenschilder zu lesen, die Plakate an den Wänden zu sehen und die Sprache um mich herum zu hören, dass ich mich manchmal einfach neben Menschen stellte, um ihrem Gespräch zu lauschen.
    Jetzt waren wir in einer großen Halle, etwa so groß wie eine Sporthalle, in die alle Flüchtlinge in Bonn erst einmal verfrachtet wurden. Sie kamen von überall her, was ich an den vielen verschiedenen Sprachen erkennen konnte. Afrikaner, Osteuropäer
und Asiaten hockten auf Stühlen, Bänken oder dem kalten Linoleumboden, und nur eine Handvoll Mitarbeiter kümmerte sich um ihre Anträge, was auch deshalb sehr langsam voranging, weil kaum einer der Asylanten Deutsch oder Englisch sprechen konnte und oft wilde Gesten zur Erklärung ausreichen mussten.
    Die Beamten an den Schaltern wirkten angestrengt, aber sie waren nicht unfreundlich, sondern versuchten, jeden Fall ordnungsgemäß zu bearbeiten und die Gründe für das Asylbegehren herauszufinden. Hier hatte alles seine Ordnung, so wie ich es als Kind in der DDR kennengelernt hatte, und nach dem ganzen Chaos, das wir hinter uns hatten, war ich trotz der Warterei glücklich darüber, dass alles seinen Weg ging. Und obwohl ich überhaupt nicht sicher sein konnte, wohin uns das Schicksal diesmal wieder führen

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