Das Mädchen, das nicht weinen durfte
beim Reinkommen, denn man sah uns wohl an, dass wir hier nicht übernachten wollten.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte er und hob seine Nase ein Stück in die Luft und die Augenbrauen hoch. Mit leiser, aber bestimmter Stimme antwortete mein Vater ihm: »Ich suche Arbeit. Haben Sie eine Stelle frei? Irgendeine, egal was?« Der junge Mann schaute erst ihn an, dann mich. Ich ahnte, was er dachte, als er uns musterte, und mein Vater sicher auch. Er hatte jahrelang in den besten Hotels logiert, war höflich und zuvorkommend bedient worden - jetzt musste er sich mit erlernter Freundlichkeit abwimmeln lassen. »Nein, tut mir leid, ich kann Ihnen da nicht weiterhelfen.« Aber mein Vater nickte nur und lächelte.
»Würden Sie mir bitte diesen Zettel abstempeln?« Er schob ihm das Blatt über die polierte Marmorplatte und der Mann an der Rezeption las ihn kurz durch, kreuzte Nein an und knallte den Hotelstempel drauf. »Danke für die Mühe«, verabschiedete sich mein Vater und wir verschwanden wieder. So ging es die ganze Tour über, in Supermärkten, Tankstellen und Restaurants, überall das gleiche Spiel. Wer würde ihm schon eine Arbeit geben?
In meine Parallelklasse ging ein Mädchen, das Kathrin hieß. Ihre Eltern waren wohlhabend, sie besaßen eines der Passagierschiffe auf dem Rhein. Das Schiff war groß, hatte drei Decks, ein Restaurant mit Bar und eine Terrasse. Kathrin wohnte mit ihrer Familie in einem schönen Haus, an dem ich einmal auf dem Weg vom Einkaufen nach Hause vorbeikam. Aus dem Garten hörte ich jauchzende Kinderstimmen und durch eine Glaswand konnte ich sie im Swimmingpool planschen sehen, auch Kathrin war dabei. Ich schaute ihnen eine Weile zu und beneidete sie um den Spaß, den sie hatten, fürchtete aber erwischt zu werden und lief mit meinen Einkaufstüten nach Hause.
Ein paar Tage später teilte uns unsere Lehrerin mit, dass wir einen Schulausflug machen würden, und zwar auf dem Schiff von Kathrins Eltern. Ich freute mich so auf diesen Tag, den ich mir wunderschön vorstellte. Der Ausflug sollte für jedes Kind 10 Mark kosten und weil ich wusste, wie wenig Geld meine Eltern hatten, sagte ich meinem Vater sofort Bescheid, damit er etwas zurücklegen konnte. Irgendwann begann die Lehrerin das Geld einzusammeln.
»Khadra, mir fehlen noch deine zehn Mark«, erinnerte sie mich jeden Tag, und ich log sie an. »Ich weiß, aber ich habe sie vergessen.« Ich war sicher, dass Papa mir das Geld noch rechtzeitig geben würde, und am Abend vor dem Ausflug fragte ich ihn erneut: »Morgen ist der Schiffsausflug, kannst du mir bitte das Geld geben?« Er sah mich mitleidig an, versuchte aber hart zu bleiben. »Hab ich nicht«, sagte er nur und sah weiter fern. Zunächst war ich traurig und wütend, aber dann redete ich mir ein: »Was hat man schon von so einer blöden Schiffsfahrt? Ist doch sowieso alles Scheiße.«
Am nächsten Morgen blieb ich im Bett liegen, als ich plötzlich Lachen und Kinderstimmen hörte und Lehrer, die versuchten, für Ordnung zu sorgen.
»Bleibt in Gruppen zusammen!«, und: »Geht nicht auf die Straße!
«, riefen sie. Ich krabbelte vom Bett und streckte meinen Kopf ein bisschen aus dem geöffneten Fenster. Die ganze Schule lief unten auf der Straße zum Rhein runter, mitten unter ihnen die schöne Kathrin. Dieses Mädchen war für mich der glücklichste Mensch der Welt und in diesem Moment hasste ich mein Leben.
Meine Mama fehlt mir
Mein Vater tat wirklich sein Bestes, um uns die Situation so erträglich wie möglich zu machen. Er hatte Nannys und Hausangestellte gehabt, die sich um uns kümmerten, Fahrer und Köche, die die Einkäufe erledigten, Putzfrauen und Gärtner, die dafür sorgten, dass unser Haus schön und sauber war. Jetzt musste er sich um alles selbst kümmern, denn meine Mutter bekamen wir erst zu Gesicht, wenn wir von der Schule kamen und sie in der Küche stand und kochte. Danach verschwand sie wieder in ihrem Zimmer. Oft hatte sie vergessen, den Herd auszumachen, oder der Wasserhahn lief noch. Das machte mich rasend, aber meinem Vater tat Mama nur leid, weil sie krank war. Einmal fiel Chuchu beim Spielen im Hof auf den Kopf und zog sich eine Gehirnerschütterung zu, eine Woche lang musste sie im Krankenhaus bleiben. Ich schwänzte die Schule, um Tag und Nacht bei ihr sein zu können, bekam sogar ein Klappbett in ihrem Krankenzimmer, in dem mehrere Mütter sich um ihre Kinder kümmerten. Meine Eltern und Geschwister kamen sie zwar besuchen, aber für
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