Das Mädchen, das nicht weinen durfte
Chuchu war ich ihre Mama.
Es gab einige Dinge, die ich mir selbst beibringen und in die ich schnell hineinwachsen musste. Denn je älter ich wurde, desto mehr verlor ich die Bindung zu meiner Mutter, und sie fehlte mir auch nicht, denn ich hatte nie das Gefühl gehabt, überhaupt eine Mutter gehabt zu haben. Mitschülerinnen oder Freundinnen erzählten mir ab und an, dass ihre Mamas sie morgens weckten,
ihnen Frühstück machten oder ihnen ein Schulbrot mit ihrem Lieblingsbelag mitgaben: »Meine Mama packt mir auch Obst ein. Ich mag Apfelsinen, und sie schneidet mit einem Messer die Schale ein bisschen an, sodass ich sie später einfacher abschälen kann«, berichtete ein Mädchen mal, und da konnte ich mir vorstellen, wie es sein musste, eine Mutter zu haben.
Und es gab Situationen, in denen ich sie wirklich gebraucht hätte, wie an jenem Tag, als ich von der Schule kam und gar nicht schnell genug laufen konnte, weil ich so dringend auf die Toilette musste. So sehr ich unser winziges Klo hasste, so sehr sehnte ich es mir in diesem Moment herbei. Ich rannte um mein Leben, nahm die Treppenstufen im Sprung, schmiss meinen Rucksack in die Ecke und schloss mich ein. Aber als ich fertig war und aufstand, schrie ich. Da war Blut! Überall Blut auf meiner Unterhose! Hatte ich mich irgendwo verletzt? Was sollte ich bloß tun?! Ich hatte mich nicht verletzt, es tat auch nicht weh, aber ich blutete zwischen den Beinen und ich dachte, es würde schon wieder aufhören. Vielleicht war es auch das, von dem ich in der Bravo gelesen hatte, dass es Frauen irgendwann bekommen. Ich sah mich um und über der Toilette war ein Regal angeschraubt, auf dem Damenbinden lagen, die meiner Mutter gehörten. Ich legte mir eine davon in mein Höschen, obwohl ich nur ahnte, dass sie genau dafür bestimmt waren. Eine Weile blieb ich noch auf der Toilette, bis ich mich beruhigt hatte. Ich schaute mich um, ob irgendwer etwas mitbekommen hatte, und sprach mit niemandem darüber. Als die Blutungen im nächsten Monat wiederkamen, wusste ich, dass ich meine Periode hatte, und mit dem Geld, das auch ich jetzt bei Herrn Reimann verdiente, kaufte ich mir Tampons, die ich in meiner Schultasche versteckte. Beim Lesen der Gebrauchsanweisung machte ich mir Gedanken: »Suchen Sie sich einen Raum, in den Sie sich ungestört zurückziehen können, und nehmen Sie sich beim ersten Mal viel Zeit dafür.« Wo sollte ich so einen Raum finden? Nicht mal hier im Badezimmer hatte ich meine Ruhe …
Alltag ohne eigenen Raum
Unter uns in der ersten Etage wohnte die kenianische Familie mit den drei Brüdern und ihrer Schwester. Fasim war der mittlere und hing mit Jungs rum, die auf die Erde spuckten, sich prügelten, in Autos und Häuser einbrachen und hinterher vor den anderen Kindern damit prahlten. Er ging zur Hauptschule, die einen sehr schlechten Ruf hatte, und einmal brachte ihn unser Direktor mit in unsere Klasse, weil eine Mitschülerin, deren Fahrrad seine Clique geklaut hatte, ihn identifizieren sollte. Ich machte lieber einen Bogen um ihn, aber das war gar nicht so einfach, da das Haus nur Zimmertüren hatte, die nicht abzuschließen waren, und jeder rauf und runter, rein und raus laufen konnte. Manchmal begegnete ich ihm auch vor dem Badezimmer, wenn er nur in Shorts bekleidet war, was ihm offenbar nichts ausmachte, mir aber sehr unangenehm war.
Er hatte auch schon eine Freundin, Susi, die so oft bei ihm zu Hause war, dass sie fast schon bei ihm wohnte. Susi spielte gerne ihre Weiblichkeit aus, wenn Jungs in der Nähe waren. Sie trug ihre blonden Haare in langen Rastazöpfen mit bunten Perlen, wie eine Afrikanerin, und dazu knallroten Lippenstift. So stöckelte sie in hohen Schuhen, engen Jeans und ihrem roten Lieblingshemd durch die Straße. Sie war ein heißes Mädel, und wenn die Jungs ihr nachpfiffen, wackelte sie noch mehr mit den Hüften und streckte ihren großen Busen raus. Sie besaß nicht viele Klamotten, aber was sie hatte, stand ihr sehr gut. Herr Reimann gab ihr immer mal ein bisschen Geld, wenn sie das Treppenhaus geputzt oder den Hof gekehrt hatte oder ihm einfach nur schöne Augen machte. Er versorgte so ziemlich alle mit Geld, aber wir mussten auch etwas dafür tun. Einerseits tat er uns mit den kleinen Jobs einen Gefallen, andererseits kam er mit der Hilfe der Brüder mit seinen Bauten ziemlich gut voran. Weil ich jünger war als Susi, versuchte sie mich herumzukommandieren.
»Khadra, lauf mal zum Supermarkt und hol mir einen
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