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Das Mädchen, das nicht weinen durfte

Titel: Das Mädchen, das nicht weinen durfte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khadra Sufi
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der ersten Etage mussten wir weiterhin mit den anderen Hausbewohnern teilen. Meine Eltern bezogen mit Chuchu ein Zimmer, Jamal bekam ein eigenes und Nanna und ich teilten uns eins, das vierte Zimmer nutzten wir als gemeinsamen Wohnraum.
    Jedes Zimmer hatte noch aus früherer Zeit ein Waschbecken, so konnten wir uns dort die Zähne putzen, wenn das Bad unten besetzt war. In die Küche stellten wir einen alten Gasherd, den wir im Gebrauchtwarenladen gekauft hatten, sowie alle Möbel, die wir auf dem Sperrmüll fanden und mit einem Rollwagen zum Haus transportieren konnten.
    Unser neues Heim war zwar alt und hässlich, aber dafür war die Umgebung schöner als rund ums Asylantenheim, denn unsere Straße führte direkt hinunter zum Rhein. Als ich mit meinen Geschwistern das erste Mal auf der Promenade stand, waren wir alle begeistert von der Fähre, die die kurze Strecke über den Rhein hin- und herfuhr. Später liebte ich es, mit meinem Vater mit dem Schiff zu fahren, um seinen Freund Sabir auf der anderen Seite zu besuchen.
    Als mein Bruder den großen, mächtigen Fluss sah, riss er sich noch auf dem Weg die Kleider bis auf die Unterhose herunter und sprang lachend ins Wasser, so wie er es früher in Somalia am Strand getan hatte. Er schwamm umher und tauchte, obwohl die Fähre und die Schiffe nicht weit weg waren und die Strömung ihn hätte mitreißen können, was wohl auch die Schaulustigen fürchteten, die sich nach und nach am Ufer versammelten. Aber er war einfach eine richtige Wasserratte.
    Mit dem wenigen Geld, das wir von der Sozialhilfe bekamen, konnten wir uns nicht viel leisten, aber Papa kaufte meist für jeden von uns einen Schokopudding, den wir so liebten, vor allem Chuchu. Sie war das Nesthäkchen der Familie und ich wünschte
mir nichts sehnlicher, als dass ihre Kindheit so unbeschwert wie möglich ablaufen sollte. Seit sie denken konnte, hatte sie nur die schlechten Seiten des Lebens mitbekommen und keine schönen Erinnerungen, an denen sie sich festhalten konnte. Ich wollte, dass die Kleine glücklich war, und half ihr, wo es nur ging. Jeden Tag nach der Schule machte ich mit ihr Hausaufgaben, ich sorgte dafür, dass sie sich regelmäßig die Zähne putzte, kämmte ihr Haar, badete sie, und bevor wir schlafen gingen, erzählte ich ihr eine schöne Geschichte oder sie erzählte mir, was sie einmal werden wollte, wenn sie groß war; ich hab selten so gelacht wie an dem Abend, als Chuchu mir sagte, dass sie später Putzfrau werden will. Sie war mein Ein und Alles und sogar Jahre später, als sie schon längst ein Teenager war, griff ich beim Überqueren der Straße noch ihre Hand, weil dieser Wunsch, sie unbedingt zu beschützen, einfach in mir drin steckte.

Immer wieder Ärger und Frust
    Wir hatten zu der Zeit eine Aufenthaltserlaubnis, die alle zwei Jahre verlängert werden musste. Jedes Mal mussten wir beim Ausländeramt einen neuen Antrag stellen, für den dann geprüft wurde, ob wir weiterhin in Deutschland bleiben durften und sozialhilfeberechtigt waren. Und jedes Mal bangten wir wochenlang, bis uns die Bestätigung für die nächsten zwei Jahre endlich zugestellt wurde.
    Die Termine, die wir beim Sozialamt hatten, wurden uns per Post mitgeteilt und die Briefe landeten im einzigen Briefkasten fürs ganze Haus, der im Hof an der Wand befestigt war. Haufenweise Post und Werbung wurden hier jeden Tag reingeworfen, sodass man alles herausnehmen und durchblättern musste, um die eigenen Briefe zu finden, den Rest legte man wieder hinein - oder auch nicht, und so ging schon mal Post verloren.

    Meist begleitete ich meinen Vater zu den Behörden, manchmal schwänzte ich auch die Schule dafür, denn ich war die Einzige, mit der er über all diese Sachen reden konnte. Einmal bekam er mitgeteilt, dass er sich Arbeit suchen sollte, und einen Zettel, auf dem die angefragten Arbeitgeber seine Anfrage quittieren mussten. Obwohl es für einen körperlich angeschlagenen 60-jährigen Asylanten aussichtslos war, einen Job zu bekommen, gingen wir auf Arbeitssuche, damit uns die Sozialhilfe nicht gekürzt wurde. In der einen Hand hielt er den Zettel, in der anderen meine Hand, so klapperten wir alles ab, was auf unserem Weg lag, auch in einem edlen Hotel fragten wir nach. Draußen war ein roter Teppich ausgerollt, ein Pförtner in Uniform öffnete die Türen der Autos, um den Gästen das Aussteigen zu erleichtern. Wir aber liefen hinein zur Rezeption. Ein junger Mann stand hinter dem Tresen und musterte uns schon

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