Das Mädchen, das nicht weinen durfte
etwa 14 Jahre alt und ihm passte nicht, dass seine Tochter so viel allein unterwegs war, und es passte ihm noch weniger, dass es einen Jungen namens Tim gab, der mich öfter besuchte, weil er aus der Nachbarschaft kam. Als Tim immer mehr Zeit mit mir verbrachte, reagierte mein Vater ungewohnt giftig. »Ich möchte nicht, dass du so viel Zeit mit diesem Jungen verbringst. Das gehört sich nicht!« Er war nicht mehr so locker wie früher, als ich noch ein kleines Mädchen war, also begann ich mehr und mehr zu verheimlichen, was ich tat. Ich lud Tim nicht mehr zu mir ein, sondern traf mich draußen mit ihm oder auf dem Sportplatz, der bei uns in der Nähe war, um mit ihm Basketball zu spielen. Ich mochte ihn ganz gern und war froh, dass ich einen Kumpel hatte, mit dem ich was unternehmen konnte, aber kurze Zeit später zog Tim in eine andere Stadt und der Kontakt brach ab.
Im Haus der Jugend lernte ich Anika, Marvin und Torsten kennen. Die beiden Jungs waren von Kindheit an schon beste Freunde gewesen und trafen sich jeden Tag vor dem Haus, in dem Torsten wohnte. Sie waren groß und hatten die gleiche Statur. Marvin hatte ein Babygesicht; blaue Augen, einen roten Mund und rote Wangen, Torsten dunkelbraunes Haar und dunkle Augen. Beide rauchten und spuckten manchmal gelangweilt auf die Straße.
Einmal hatten die beiden Anika und mich angesprochen, seitdem ging ich immer in Torstens Straße, um die beiden zu treffen,
und nahm Anika mit, weil ich nicht allein hingehen wollte. Mit der Zeit stellte sich aber heraus, dass die Jungs sie nicht mochten und sie hänselten, also wollte sie irgendwann nicht mehr mit. Ich war dagegen gern gesehen, wohl auch, weil ich ihnen öfter Zigaretten kaufte, irgendwann rauchte ich dann mit. Ich hing gern mit ihnen ab, weil ich mich total in Marvin verknallt hatte, was ich ihm aber niemals gesagt hätte, dafür war ich viel zu schüchtern. Auch zu Hause durfte niemand von meiner Clique wissen, mein Vater hätte mir den Kontakt zu den Kids sofort verboten.
Eines Tages feierte Jonas, der gegenüber von Torsten mit seiner Oma lebte, seinen Geburtstag. Zunächst lud er uns zu sich ein, danach wollten alle noch zum Dartspielen gehen. Ich war noch nie abends so lange außer Haus gewesen und mir war klar, dass ich das nicht durfte. Also ließ ich mir eine Ausrede einfallen, die Jungs nicht begleiten zu können, denn ich wollte es auf keinen Fall zugeben, das wäre ja uncool gewesen.
»Ach, nö, Khadra! Du musst mitkommen«, drängten sie mich, deshalb begleitete ich sie zumindest noch bis zum Lokal: »Ich komme später nach.«
»Wirf dich in Schale!«, rief Torsten noch, der - im Gegensatz zu Marvin - schon länger ein Auge auf mich geworfen hatte. Ich aber wollte unbedingt ein Teil von ihnen und vor allem in der Nähe von Marvin sein. Als ich zu Hause ankam, war es schon fast 21 Uhr. »Warum kommst du so spät?«, fragte mein Vater.
»Ich war noch mit Anika im Haus der Jugend«, log ich. »Die haben dort eine Feier. Ich hab mich gefragt, ob ich noch etwas länger …« Aber er war schon zornig.
»Nein, nein! Auf keinen Fall«, unterbrach er mich. »Zu dieser Zeit gehst du nirgendwo hin! Ich will, dass du ab jetzt immer spätestens um 19 Uhr zu Hause bist!« Es war zwecklos, mit ihm zu diskutieren. Und die Wahrheit sagen wäre noch schlimmer gewesen. Na toll, das hatte ich nun davon: Es hatte bisher keine
festen Uhrzeiten gegeben, zu denen ich zu Hause sein musste, und 19 Uhr war viel zu früh. Aber ich hielt mich dran und verabschiedete mich fortan immer kurz vor 19 Uhr von meiner Clique, um rechtzeitig zu Hause zu sein und keinen Ärger zu bekommen, obwohl ich die Einzige war, die so früh gehen musste.
Wenn ich dann zu Hause in meinem Zimmer, das ich ja mit meiner Schwester teilen musste, auf dem Bett lag, träumte ich zur Musik von Mariah Carey vor mich hin. Eine Klassenkameradin hatte mir die Lieder auf Kassette aufgenommen, damit ich sie auf meinem alten Rekorder, der nicht mal mehr eine Klappe hatte, abspielen konnte. Nanna hatte gerade ihre rebellische Phase und wir zankten uns permanent über alles Mögliche, sogar über die Musik, die ich hörte. Ihr Idol war Whitney Houston, und unser Zimmer wurde zum Krisengebiet. Auf meiner Seite des Zimmers hingen die Poster von Mariah an der Wand, und Nanna hängte immer wieder neue Bilder von Whitney auf, schon gab es Zoff. Nanna war auch sauer, weil sie tagsüber oft mit mir kommen wollte, ich sie aber nicht mitnahm, weil ich fürchtete, sie
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