Das Mädchen, das nicht weinen durfte
würde meinem Vater von der Clique erzählen. Deshalb huschte ich immer heimlich aus dem Haus, wenn Nanna gerade beschäftigt war.
Hinter Torstens Häuserblock gab es ein kleines Waldstück, in das wir irgendwann ganz weit hineingingen und dabei eine kleine Hütte entdeckten, die irgendjemand aus Holz zusammengebaut hatte. Wir stellten uns Holzstücke als Hocker hin und befestigten von außen noch Äste und Blätter um die Hütte, damit keiner reinschauen konnte. Das war unser neuer Treffpunkt: Nur Marvin, Torsten, Jonas und ich durften rein, kein anderer durfte von diesem Versteck wissen. Hier konnten die Jungs auch ungestört rauchen, ohne erwischt zu werden. Ich hatte allerdings nicht geahnt, dass meine Schwester mir in den letzten Wochen öfter heimlich gefolgt war, um zu sehen, was ich treibe. Als wir uns wieder einmal wegen irgendeiner Lappalie zu zanken begannen, schrie ich sie an:
»Geh mir nicht auf die Nerven, sonst reiß ich dir die Poster von der Wand!« Prompt rannte sie zu meinem Vater, um zu petzen, und ich lief ihr hinterher, um das Schlimmste zu verhindern, aber es war zu spät.
»Papa, die Khadra trifft sich jeden Tag mit Jungs im Wald. Die haben dort ein Versteck und sie ist das einzige Mädchen«, rief sie ihm entgegen.
»Was? Das darf doch nicht wahr sein!« Er war empört. Verzweifelt rang ich um Worte und versuchte ihn zu beschwichtigen.
»Das ist nur eine kleine Hütte, die wir dort entdeckt haben.«
»Geh in dein Zimmer! Du hast Hausarrest«, schrie er mich an und machte nur eine Handbewegung, die alles sagte. Er war zutiefst enttäuscht von mir und zeigte es mir auch, indem er mich in den folgenden Tagen kaum beachtete.
Ein faszinierendes Erlebnis
Meine Stieftante Niha, die denselben Vater, aber nicht dieselbe Mutter wie Mama hatte, kam uns besuchen. Sie war im Krieg nach Kenia geflüchtet, wo sie einige Jahre gelebt und auch geheiratet hatte. Jetzt erwartete sie ein Baby und ihr Mann war zunächst dort geblieben, sollte aber vor der Geburt des Kindes noch nach Deutschland nachkommen.
Ich erwartete Niha schon ganz hibbelig am Bahnhof, als sie ankam. Sie war so schön und strahlte mich mit ihren braunen Augen an. Sie hat einen ganz hellen, karamellfarbenen Teint und eine schmale, lange Nase, die sich an der Spitze leicht nach oben biegt. Ihre Lippen sind rosafarben und wenn sie lacht, bilden sich kleine Grübchen in ihren Wangen. Niha hat eine Zwillingsschwester, die nur durch ein Muttermal am Mundwinkel von ihr zu unterscheiden ist und die sie in Somalia zurücklassen musste, als sie mit ihrem Mann in völlig überfüllten Fischerbooten nach
Kenia geflohen war. Als ich mit ihr nach Hause lief, trafen wir zufällig einen Bekannten, der gerade die Straße überquerte.
»Guck mal, das ist meine Tante!«, rief ich ihm ganz stolz zu, denn ich freute mich, dem Kerl, der immer über Ausländer schimpfte, so eine entzückende somalische Frau vorstellen zu können. Sie lächelte ihn an, er lief rot an und grüßte überfreundlich zurück. Ohne weiter mit ihm zu sprechen, liefen wir nach Hause, Tante Niha stöckelte dabei etwas unbeholfen auf ihren Absätzen herum, weil sie es offenbar nicht gewohnt war, in hohen Schuhen zu laufen. Ich nahm ihr die schwere Tasche ab und schaute sie mir etwas genauer an.
Es war eigenartig, sie in europäischer Kleidung zu sehen. Ihre Haare waren nicht von einem seidenen Tuch bedeckt, sondern zu einer schönen Frisur hochgesteckt. Sie trug auch kein Gewand, sondern eine knallenge, lachsfarbene Röhrenhose, in der sie ein bisschen gequetscht aussah, weil ihre üppigen, weiblichen, typisch afrikanischen Rundungen nicht in die schmale, europäisch geschnittene Hose passten. Auch ich ärgere mich bis heute immer wieder darüber, dass diese Schnitte nicht wirklich für meine Figur gemacht sind.
Meine Tante mietete sich ein Zimmer, das eine Etage unter unserer Wohnung lag und gerade frei geworden war, weil Abdul Hassar, der älteste Sohn unserer Nachbarn, ausgezogen war. Meine Tante wusste nicht, wie lange sie hier bleiben würde, denn es war nicht sicher, wann ihr Ehemann aus Kenia ausreisen konnte. Damit sie Gesellschaft hatte, nahm ich meine paar Klamotten und den kaputten Kassettenrekorder und zog zu ihr nach unten. Hier hatte ich meine Ruhe vor meiner nervigen Schwester und ich fühlte mich auch ein Stück unabhängiger und erwachsener. Außerdem dachte ich, könnte ich mir dadurch mehr Freiheiten erlauben, wenn es darum ging, wann ich zu Hause zu sein
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