Das Mädchen, das nicht weinen durfte
stammelte Halima und es klang wie eine traurige Melodie.
»Ich mache dir einen Vorschlag«, sagte mein Vater plötzlich. »Wenn ihr in den Supermarkt geht, dann kauft ihr von den Gutscheinen auch unsere Lebensmittel und ich gebe dir dann Bargeld dafür.«
Es war unfassbar, wie Papa es immer wieder schaffte, trotz eigener Not anderen zu helfen, und er hatte mir auch in diesem Moment wieder gezeigt, dass wir unser Leben schätzen mussten, denn es gab immer noch Menschen, denen es schlechter ging, obwohl ich so etwas damals auch schnell wieder vergaß. So brachte er mir kurze Zeit später einmal aus dem Gebrauchtwarenladen ein orangefarbenes Klappfahrrad mit: »Hier«, sagte er ganz stolz. »Damit kannst du jetzt morgens zur Schule fahren.« Ich schaute mir das Ding genauer an und war froh, dass er meine Gedanken in diesem Moment nicht lesen konnte. Das Fahrrad hatte zwei winzige Räder, aber dafür ein umso höheres Gestell. Es war das hässlichste Fahrrad, das ich jemals gesehen hatte. »Damit lass ich mich nicht in der Schule blicken«, platzte es dann doch aus mir heraus.
»Warum denn nicht?«, antwortete er mir, und am Tonfall merkte ich, dass er das überhaupt nicht nachvollziehen konnte. Ich wusste, dass es wieder eine lange Diskussion geben würde, denn wenn er sich im Recht sah, war es kaum möglich, ihn von einer anderen Meinung zu überzeugen.
»Das Ding ist bestimmt zwanzig Jahre alt, zumindest sieht es so aus«, versuchte ich es ihm zu erklären. »Da gehe ich lieber zu Fuß zur Schule.«
»Das Fahrrad sieht spitzenmäßig aus! Da ist nichts dran. Ich verstehe nicht, warum du dich so anstellst. Aber wenn du nicht willst, dann eben nicht!«
Einige Tage später fand ich meinen Vater am Nachmittag auf der Rheinpromenade. Die Sonne schien rötlich am Himmel und ich sah ihn von Weitem auf dem Klapprad, mit einem Fuß hielt er den Kontakt zum Boden, der andere war auf der Pedale. Dann versuchte er mit beiden Füßen vom Boden loszukommen, geriet aber immer wieder aus dem Gleichgewicht und es sah aus, als würde er gleich hinfallen.
»Was machst du denn da?«
»Ich will lernen, wie man Fahrrad fährt«, antwortete er mir und war sehr konzentriert. Ich hielt mit der einen Hand den Sattel fest und mit der anderen den Lenker. »Versuch’s noch mal«, forderte ich ihn auf.
»Das kann doch nicht so schwer sein, geradeaus zu fahren«, murmelte er ein wenig verärgert. So übten wir eine Zeit lang, aber er hatte schlicht zu viel Angst und wackelte viel zu sehr mit dem Lenker hin und her, als dass er hätte geradeaus fahren können. »Komm, mach du es mir mal vor«, meinte er dann. Ich fuhr mit dem klapprigen Rad langsam um ihn herum, damit er es sich ansehen konnte. »Es sieht bei dir so einfach aus. Lass mich noch mal.« Wieder hielt ich das Rad fest, denn ich hatte viel zu große Sorge, dass er sich die Knochen brach, doch nach einigen weiteren Versuchen gab er schließlich auf. »Fahrradfahren ist nichts für mich«, sagte er nur und stellte es letztlich im Hof ab, von wo es irgendwann verschwand.
Ich entdecke neue Lebensräume
In Bad Godesberg gab es das Haus der Jugend. Es war ein Club, der Jugendlichen ein abwechslungsreiches Programm anbot, an jedem Tag der Woche gab es etwas anderes: Montags wurde der Aufenthaltsraum in ein Kino verwandelt, dienstags war Basteltag und mittwochs gab es Kicker- oder Tischtennisturniere. Dort konnte der Erstplatzierte einen Gutschein im Wert von 10 Mark gewinnen. Ich habe die Tischtennisturniere oft gewonnen und dann gleich ein kleines Vermögen in Süßigkeiten, Cola und Club-Sandwiches angelegt, die man sich bei Gaby an der Theke kaufen konnte. Sie war die Betreuerin im Haus der Jugend und ich mochte ihre lässige Art, die sie auch bei schwierigen Kindern nicht verlor, denn viele Jugendliche hier kamen aus Problemfamilien und waren aggressiv und schon polizeilich aufgefallen. Einige absolvierten
auch ihre vom Gericht verhängten Sozialstunden im Haus der Jugend und Gaby diskutierte immer ruhig und sachlich mit ihnen. Ich hörte sie nie herumschreien.
Ich ging schließlich fast jeden Tag nach der Schule ins Haus der Jugend, blieb immer länger dort und testete so aus, wann es meinen Eltern zu viel wurde. Eines Abends kam ich so gegen 20.30 Uhr nach Hause, weil Discoabend gewesen war.
»Wo warst du so lange?«, fauchte mein Vater verärgert. »Im Haus der Jugend«, antwortete ich vorsichtig.
»Das geht nicht! Du kannst nicht so spät nach Hause kommen!« Ich war
Weitere Kostenlose Bücher