Das Mädchen, das nicht weinen durfte
hatte. Das klappte auch ganz gut, weil mein Vater nun nicht mehr so streng über mich wachte.
Die Schwangerschaft meiner Tante so hautnah mitzuerleben war sehr spannend. Ab und zu, wenn sie das Baby spürte, rief sie mich zu sich.
»Khadra, fühl mal, sie strampelt wieder!« Wenn ich dann meine Hand auf ihren Bauch legte, konnte ich mir kaum vorstellen, wie so ein kleines Wesen ein solches Theater machen konnte.
Einige Monate später, als ich gerade schlafen gehen wollte, sprang meine Tante plötzlich aus ihrem Bett und rannte zum Waschbecken neben der Tür. Sie übergab sich, dann fasste sie sich an den Bauch und hatte plötzlich heftige Schmerzen.
»Ruf einen Krankenwagen!«, stöhnte sie mit verzerrtem Gesicht. Ich rannte schnell nach oben, schnappte mir das Telefon und schon nach wenigen Minuten stand ein junger Mann vom Rettungsdienst vor unserer Tür.
»Meine Tante ist schwanger und hat auf einmal heftige Schmerzen«, platzte es aus mir heraus. »Sie hat sich gerade übergeben.«
»Oh, ja, die Fruchtblase ist geplatzt und die Wehen haben schon eingesetzt«, meinte der Sanitäter seelenruhig, stützte sie und ging mit ihr die Treppen runter. Ich lief hinterher zum Krankenwagen. »Geht’s?«, fragte der Sanitäter meine Tante. »Was hat er gesagt?«, fragte mich Niha. »Versteht sie kein Deutsch?«, fragte der Sanitäter und ich schüttelte den Kopf. »Dann kommst du mit!«
Ehe ich mich versah, saß ich im Krankenwagen, und in der Klinik angekommen, standen schon Hebammen bereit, meine Tante wurde auf eine Liege gelegt und in den Kreißsaal gefahren. Sie schrie vor Schmerzen und griff meine Hand.
»Ganz ruhig, ganz ruhig, tief Luft holen«, versuchte die Hebamme auf sie einzureden, als sie sich die Handschuhe überzog.
»Tartib, Niha, tartib, neefso!«, übersetzte ich und so lief es dann auch weiter: Die Hebamme gab Anweisungen und ich gab sie in Somali weiter.
Dann kletterte die Hebamme auf die untere Kante des Bettes und fühlte nach dem Baby.
»Und jetzt mal kräftig pressen, pressen, pressen … ja, gut«, sagte sie und Niha schrie nicht mehr nur, sondern presste mit aufgerissenen Augen, allerdings nicht nur ihren Unterleib, sondern auch meine Hand. Ich war ziemlich aufgeregt, und dann konnte ich das Köpfchen sehen, Stück für Stück kam die Kleine aus meiner Tante heraus. Ich schätze, es hat ungefähr eine halbe Stunde gedauert, bis wir Solah schreien hörten. Ich sah, wie der Bauch meiner Tante, der eben noch so groß war, langsam in sich zusammenfiel, als ob aus einem Ballon die Luft herausgelassen würde. Sie schnitten die Nabelschnur ab und wuschen das Baby, um es dann der erschöpften, aber strahlenden Niha in den Arm zu legen. Noch Tage nach diesem Erlebnis war ich wie benommen von den Eindrücken, ich war ja gerade 14 Jahre alt und wusste noch nicht so lange, wie Kinder überhaupt entstehen und dann geboren werden. Als Solah zu uns ins Zimmer zog, wiegte ich sie oft im Arm und wechselte ihr die Windeln. Unsere kleine Mitbewohnerin brauchte aber so viel Aufmerksamkeit, dass ich nachts kaum schlafen konnte und am Morgen nur sehr schwer aus dem Bett kam, um zur Schule zu gehen, deshalb musste ich wieder nach oben zu meiner Schwester ziehen.
Ein paar Wochen später kam dann auch endlich Nihas Mann aus Kenia, wo er viel Geld damit verdient hatte, Afrikanern mit von ihm gefälschten Visa zur Flucht zu verhelfen. Nur mit einem dünnen Filzstift konnte er freihändig die Stempel nachzeichnen, und so gelang Niha und ihrem Mann auch zuerst die Einreise nach Deutschland und später nach England, als sie uns verließen.
Leben aus der Perspektive von unten
Durch seinen Freund Sabir fand mein Vater zumindest vorübergehend eine Beschäftigung, die ihm ein paar Mark extra einbrachte. Mit Sabirs beigefarbenem Mitsubishi-Bus chauffierte
Papa eine arabische Diplomatenfamilie durch die Gegend, den Botschafter zu Geschäftsterminen, die Nannys oder Angestellten zu Einkäufen, die Familie zu Ausflügen. Er fuhr sie irgendwohin und wartete im Auto, bis sie wieder einstiegen. Er wusste nie, wie lange sie wegbleiben würden, und nahm mich einige Male mit. Manchmal dauerte es Stunden, bis sie wiederkamen und zum nächsten Ort gefahren werden wollten. Ich saß dann hinten im Auto und beobachtete meinen Vater, den die Fahrerei zu erschöpfen schien, manchmal fielen ihm sogar die Augen zu. Außerdem wusste ich, wie ängstlich er beim Autofahren war, seit wir diesen schlimmen Unfall in Somalia gehabt hatten,
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