Das Mädchen, das nicht weinen durfte
der Gegend umgarnt, die allesamt Mofas fuhren und die Mädels damit überallhin chauffierten. Ich bewunderte diese Mädchen, wenn sie auf ihren hohen Schuhen herumstöckelten und ihre langen Haare schüttelten. Ich besaß weder das nötige Selbstbewusstsein noch schöne Kleidung, und ich wusste auch nicht, wie frau sich schminkt.
Nach und nach erfuhr ich auch, woher sie das alles hatten: Sie klauten! Mit einer kleinen Zange, die sie in der Handtasche versteckten, entfernten sie in den Kabinen der Geschäfte die Sicherheitsanhänger und nahmen die Klamotten mit. Sie machten kein großes Geheimnis daraus, aber ich hätte so etwas nie gewagt.
Einige hatten aber auch Jobs in den angesagtesten Boutiquen der Bonner Altstadt, wo ich sie durch das Schaufenster gesehen hatte. Auch ich träumte davon, irgendwann hier zu arbeiten, zwischen all den schönen Markensachen und bei fetziger Musik.
Diese Welt reizte mich so sehr, dass ich fast jeden Nachmittag nach der Schule bei Herrn Reimann jobbte, um noch mehr Geld zu verdienen und mir schöne Klamotten leisten zu können. Die erste Bluejeans, die ich mir von meinem eigenen Geld kaufte, war schmal geschnitten und passte mir wie angegossen. Sie reichte sogar bis zum Boden, was bei meinen langen Beinen nicht selbstverständlich war. Ich liebte diese Jeans und sogar als sie schon völlig verschlissen war, zog ich sie noch gerne an. Dazu kaufte ich mir ein weißes Top, das im Nacken gebunden wurde, eine Strickjacke und weiße Turnschuhe. Mein Outfit war komplett, endlich sah ich so aus, dass ich mir selbst gefiel und begann, mich wohlzufühlen.
Kurz darauf ging ich in den Drogeriemarkt, kaufte mir meinen ersten Eyeliner, einen Kajalstift und Wimperntusche, um mich zu schminken. Zu Hause stellte ich mich vor den Spiegel, zog mit dem Eyeliner einen dünnen Strich auf meinen Augenlidern und tuschte meine Wimpern, sodass meine Augen richtig groß wirkten und einen intensiven Ausdruck bekamen. Ich kam mir auf einmal so erwachsen vor, gar nicht mehr wie ein Teenie, aber es dauerte noch, bis ich mich so auf die Straße traute, denn ich war mir unsicher, wie die anderen auf mein neues Aussehen reagieren würden. Doch irgendwann ging ich in meinem neuen Look ins Haus der Jugend.
»Wow, sieht das gut aus, sexy-hexy!«, jubelte Gaby, die Betreuerin, und von da an bekam ich immer mehr Lust, mein Aussehen zu verändern, und experimentierte weiter herum. So lernte ich allmählich, meine Schokoladenseiten hervorzuheben und zu betonen. Mit meinem neuen Aussehen stieg auch mein Selbstbewusstsein und plötzlich interessierten sich auch die Jungs für mich.
Eines Tages bummelte ich durch die Altstadt. An der Jeans-Boutique, die ich so cool fand, sah ich ein kleines Schild an der Tür: Aushilfe gesucht. Das war meine Chance! Ich war richtig aufgeregt und lief erst ein paarmal an dem Laden vorbei, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte, schließlich hatte ich mich noch nie zuvor beworben, und ich fürchtete, eine Absage zu bekommen. Dann nahm ich all meinen Mut zusammen und ging hinein, als der Chef gerade Kunden bediente. Er war Anfang 30, hieß Lukas und musterte mich kurz, als ich hereinkam.
»Kann ich dir weiterhelfen?«
»Äh, ja. Ich hab eine Frage, das Schild da draußen, ich wollte fragen, ob ich, äh, ich würde hier gern arbeiten.« Ich kam mir so blöd vor!
»Hast du schon einmal in einer Boutique gearbeitet?«
»Äh, nein, noch nie, aber ich putz bei Herrn Reimann und helf auch in der Werkstatt!« Oh, nein! Hatte ich das wirklich gesagt?! Aber er grinste nur.
»Komm morgen Nachmittag mal zur Probe, danach sehen wir weiter.« Ich war so hoffnungsfroh und wollte mir alle Mühe der Welt geben, um diesen Job zu bekommen. Und das tat ich auch. Einige Zeit später, als ich den Job längst hatte, haben Lukas und ich uns noch darüber kaputtgelacht, wie ich mich vorgestellt hatte. Lukas erzählte mir, dass meine ganze Aufregung völlig umsonst gewesen war, denn er hätte mir den Job ohnehin gegeben.
Als ich bei ihm anfing, musste ich mich erst einmal mit den Klamotten aus seinem Laden einkleiden, das Geld dafür zog er mir von meinen ersten Auszahlungen ab, aber das war mir egal, denn ich arbeitete im coolsten Laden der Stadt und trug die schönsten Klamotten. Nach und nach entwickelte ich meinen eigenen Stil und oft fragten Kundinnen, wo ich die Sachen gekauft hätte und ob sie ihnen auch stehen würden. Auch wenn ich nicht arbeiten musste, hielt ich mich gern im Laden auf, einfach
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