Das Mädchen, das nicht weinen durfte
ich mir meine Freiheit oft durch Lügen erkämpfen musste: Nach wie vor durfte ich nicht lange ausgehen und musste nach der Arbeit im Jeansladen sofort nach Hause kommen. Diese ganze Situation frustrierte mich und ich hatte keinen, dem ich mich anvertrauen konnte. Auch Stefan erzählte ich nichts, denn ich kannte es bis dahin gar nicht, offen über meine Probleme zu sprechen, es war mir unangenehm und ich fraß alles in mich hinein. Ich wünschte mir so sehr, meinem Vater sagen zu können, dass ich einen Freund hatte, in den ich verliebt war, aber ich traute mich einfach nicht.
Und Stefan wusste nur, dass er mich um 19 Uhr nach Hause bringen musste, und das tat er auch. Wenn er mich abends anrief, ging auch mein Vater mal ans Telefon und Stefan muss sehr freundlich gewesen sein, denn Papa fragte mich dann irgendwann nach ihm: »Sag mal, dieser Sankt Stefanus …«
»Papa! Er heißt STEFAN.«
»… der begrüßt mich immer sehr nett am Telefon. Wer ist das eigentlich?«
»Ach, der geht auf meine Schule und gibt mir ab und zu Nachhilfe in Mathe«, antwortete ich betont beiläufig - und ich hatte ihn noch nicht mal angelogen. Stefan half seiner Schwester und mir tatsächlich bei der Vorbereitung auf Klassenarbeiten. Ich hatte zwar an diesem Abend die Gelegenheit, die ganze Wahrheit zu sagen, aber ich war mir sicher, dass er sie nicht hören wollte, und ich wollte nicht riskieren, dass er mir den Kontakt verbot und ich noch früher zu Hause sein musste. Wir konnten ja nicht mal abends ins Kino gehen oder in die Disco.
Doch ich erzählte Stefan, dass mein Vater ihn am Telefon nett fand, und er war ganz stolz, dass er so einen guten Eindruck hinterlassen hatte. Anfangs kamen wir auch damit klar, dass wir unsere Beziehung verheimlichen mussten. Nach der Schule trafen wir uns in der Stadt und gingen spazieren oder besuchten Freunde. Doch dann überraschte Stefan mich.
»Meine Eltern wollen dich kennenlernen.« Ich war zunächst etwas verunsichert, aber dann freute ich mich darüber, dass wir zumindest vor seinen Eltern zu unserer Beziehung stehen konnten. Als ich das erste Mal bei ihm zu Hause war, war ich sehr nervös und eingeschüchtert, ich antwortete nur knapp auf die Fragen, die seine Mutter mir stellte, als wir mit seiner Familie am Esstisch saßen. Stefan saß neben mir und sagte nicht viel, genauso wie sein Vater und seine Geschwister, die ruhig aßen. Seine Mutter löcherte mich dafür umso mehr. Sie interessierte sich für meine Herkunft und wollte wissen, wie lange meine Eltern schon in Deutschland lebten. »Kennen deine Eltern den Stefan?«, fragte sie. »Ja«, antwortete Stefan. »Ich habe schon ein paarmal mit ihrem Vater telefoniert.« - »Was sagen sie denn dazu, dass ihr zusammen seid?« Diese Frage hatte ich befürchtet. »Sie wissen es noch nicht«, antwortete ich zögerlich. »Ach so«, sagte sie nur.
Als ich nach Hause musste, brachte mich Stefan noch zur Bushaltestelle. »Na? War doch halb so schlimm, oder?«, fragte er mich. »Ja, ich war nur etwas aufgeregt. Meinst du, deine Eltern
mögen mich?«, fragte ich, während ich in Gedanken die letzten Stunden noch einmal durchging. »Natürlich mögen sie dich. Wieso sollten sie es nicht?« Bevor ich in den Bus stieg, umarmte mich Stefan ganz fest und schaute mir tief in die Augen. Wir hatten einen wichtigen Schritt getan.
Am nächsten Tag erwartete er mich schon auf dem Pausenhof, und ich war gespannt, was seine Eltern am Abend noch gesagt hatten. Ich strahlte ihn an und versuchte ein Lächeln von ihm zu erhaschen, das ich normalerweise immer bekam, wenn er mich morgens sah, aber er wich meinem Blick aus. Ich gab ihm einen Begrüßungskuss. »Alles in Ordnung?« Er zog mich zur Seite und ich wurde unruhig. Mit seiner festen Stimme fing er an zu sprechen. »Meine Mutter will nicht, dass wir zusammen sind.« Mein Herz pochte. »Was? Warum?«
»Sie sagt, solange deine Eltern nichts wissen, will sie es auch nicht unterstützen.«
Seine Worte trafen mich wie ein Faustschlag ins Gesicht, alles zog sich in mir zusammen. Sollte es das gewesen sein? Ich konnte nicht zu meinen Eltern gehen und ihnen sagen, dass ich einen Freund hatte, das war unmöglich und er wusste das. Regungslos stand ich auf dem Schulhof und als Stefan mich umarmte, konnte ich mich nicht rühren und die Umarmung nicht erwidern. Ich war blockiert und gefühllos, eine Art Selbstschutz, der sich bei mir auch heute noch manchmal einstellt, wenn ich Angst habe, verletzt zu werden.
»Wir
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