Das Mädchen, das nicht weinen durfte
allem mit ihm verbracht hatte, hatte ich den Kontakt zu Marvin und meiner Clique verloren. Und obwohl ich unsere Beziehung beendete, fehlte mir danach der einzige Halt, den ich hatte. Sogar Stefan sprach mich in der Pause mal darauf an, dass man mir ansähe, wie schlimm es mir ginge, aber ich versuchte es herunterzuspielen oder log ihm irgendeinen Grund vor. Ich musste mich zwingen, morgens aufzustehen und in die Schule zu gehen, und oft schwänzte ich auch den Unterricht und blieb im Bett liegen, weshalb mein Vater mit mir schimpfte, aber dann erzählte ich ihm von Magenschmerzen oder irgendetwas anderem.
In der Klasse fiel ich vor allem durch meine Wutanfälle auf, die ich wegen belangloser Streitigkeiten mit meinen Klassenkameraden bekam, selbst bei banalen Diskussionen ging es schnell mit mir durch und ich wurde laut und schrie herum. Irgendwann fiel das meinem Klassenlehrer, Herrn Neumann, auf und er bat mich, nach dem Unterricht auf ihn zu warten, weil er mit mir
reden wollte. Herr Neumann war auch der Vertrauenslehrer an unserer Schule.
»Was ist los mit dir, Khadra?«, fragte er, nachdem alle Schüler das Klassenzimmer verlassen hatten. »In letzter Zeit bist du kaum wiederzuerkennen. Du lachst gar nicht mehr und siehst traurig aus. Gibt es Probleme zu Hause?« Herr Neumann kannte mich mittlerweile seit drei Jahren. Ich wusste, dass ich ihm nichts vormachen konnte, und ich wollte auch nicht mehr. Ich wusste gar nicht, wo ich anfangen sollte, brockenweise erzählte ich ihm von unserem Zuhause, dass ich mich dort nicht wohlfühlte, weil wir in einem Flüchtlingsheim wohnten, in dem ich kein eigenes Zimmer hatte, dass nicht mal die Tür abzuschließen war, fast alle Fensterscheiben Risse hatten, ich mich schämte, Besuch zu empfangen … Ich erzählte ihm, dass meine Mutter krank war und ich mich um alles kümmern musste, was mein Vater nicht schaffte. Ich erzählte ihm, dass wir ständig Geldprobleme hatten und es mir leidtäte, meine Eltern in Klamotten von der Altkleidersammlung zu sehen und und und … Ich redete sehr lange und spürte, wie gut mir das tat, und Herr Neumann hörte aufmerksam zu. Aber während all das aus mir heraussprudelte, konnte ich in seinen Augen sehen, dass es ihn sehr mitnahm, und ich begann zu fürchten, dass ich ihn mit meinen Problemen überforderte, denn ich wusste, dass es unmöglich war, meine Familie und mich aus dieser Situation herauszuholen. Ich wollte auch kein Mitleid und auch nicht, dass er mich mit anderen Augen als bisher sah.
Herr Neumann war der erste Mensch, dem ich einen kleinen Einblick in mein Seelenleben gab, und als ich fertig war, schwiegen wir beide einen kurzen Moment. Ich empfand es als unangenehm und begann bereits zu bereuen, so offen gewesen zu sein, aber er musste das alles wohl erst einmal verdauen und wusste nicht so recht, wie er auf meine Worte reagieren sollte. »Zum Glück hast du einen ganz lieben Freund, der dir sicher eine
große Stütze ist«, sagte er schließlich. Ich sah ihn an: »Ich habe mit Stefan Schluss gemacht.«
»Warum denn? Ihr wart doch so ein tolles Paar!« Er war erstaunt. »Wir durften nicht zusammen sein, unsere Eltern waren dagegen.« Herr Neumann schwieg wieder und ich ging nach Hause. Ich hatte ihm mein Innerstes offenbart und ihn damit überfordert, und jetzt fühlte ich mich bloßgestellt und nackt. Hätte ich doch den Mund gehalten! Ich hätte ja auch einfach so weitermachen können wie bisher: Khadra, die Starke, die immer einen flotten Spruch auf den Lippen hatte, um die anderen zum Lachen zu bringen. Diese Rolle hatte ich besser im Griff. Denn wenn es mir gut ging, alberte ich herum und unterhielt mit meinen Aktionen die gesamte Klasse, wie vorm Sportunterricht in der Umkleidekabine, die ich zu meiner Showbühne machte. Ich rannte umher, sang und tanzte, zog Grimassen oder machte irgendwelche Lehrer nach, die wir nicht mochten.
»Khadra, du wirst bestimmt mal berühmt«, meinte meine Klassenkameradin Inga mit ihrer heiseren Stimme jedes Mal zu mir, nachdem sie sich über mich amüsiert hatte.
9.
DIE VERGESSENEN HELDEN
Die Aufregung im Flüchtlingsheim war riesengroß. Das Telefon klingelte ständig und mein Vater sprach mit einigen somalischen Freunden und ehemaligen Kollegen, die in Bonn lebten.
»Ja, ja, gib ihnen meine Adresse, wann wollen sie denn kommen? Jetzt gleich? Okay, kein Problem.« Er war aufgedreht und steckte voller Elan, so energiegeladen hatte ich ihn seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen und ich
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