Das Mädchen, das nicht weinen durfte
und ging einfach.
Jassar war damals kurz nach uns ebenfalls nach Ägypten geflüchtet. Mittlerweile lebte er in Belgien und war mit vier Freunden nach Bonn gekommen. Sie übernachteten bei einem anderen Bekannten in Bonn und blieben drei Tage, in denen sie jeden Nachmittag vorbeikamen. Ich versuchte ihn zu meiden und blieb in meinem Zimmer, während ich sie nebenan hörte, wie sie grölten vor Spaß und über alte Zeiten sprachen: »Wisst ihr noch, als wir das Erinnerungsfoto machen wollten? Alle warteten auf Niha, weil sie sich erst Parfüm draufmachen wollte, sie hat wohl nicht gewusst, dass man es auf dem Foto sowieso nicht riecht!« Alle lachten los, auch ich hatte diesen Tag noch vor Augen und musste grinsen, während ich nebenan auf meinem Bett lag. Als ich später auf dem Weg zur Toilette am Wohnzimmer vorbeiging, rief er mich.
»Khadra, komm, komm, wir lachen grad über alte Zeiten! Woran kannst du dich noch erinnern?« - »An alles!«, keifte ich und für einen kurzen Augenblick gefror sein Lachen, aber dann wandte er sich schnell wieder Nanna und Jamal zu und erzählte die nächste lustige Geschichte.
Raus, bloß weg hier! Ich brauchte frische Luft und Ablenkung, lieh mir die Rollerblades von unserem Nachbarn und skatete über die Rheinpromenade, rauf und runter, immer wieder. Irgendwann standen Jassars Freunde an der Straße und blickten herüber, während sie an ihren Zigaretten zogen, aber ich beachtete sie nicht weiter und sie gingen wieder ins Haus. Als ich nach Hause kam, sprach Jassar gerade mit meiner Mutter und er sah sehr ernst dabei aus. Dann verabschiedete er sich und fuhr mit seinen Freunden zurück nach Belgien.
»Worüber habt ihr geredet?«, wollte ich von ihr wissen. »Er meint, dass du zu aufreizend gekleidet bist, seine Freunde haben sich schon über dich unterhalten«, erzählte sie. Offenherzig gekleidet?! Ich trug meine Lieblingsjeans und ein weißes Neckholdertop! Und darüber hätte jeder etwas sagen dürfen, aber gerade er nicht! Ich kochte innerlich und sie hätte all meine Wut abbekommen, wenn sie jetzt mit mir geschimpft hätte, so aber schluckte ich meinen Ärger herunter und hoffte, ihn nie wieder sehen zu müssen. Aber sein Besuch sollte mich noch länger aufwühlen. In den Monaten danach träumte ich von der Schande, die er mir angetan hatte, ich wachte nachts auf, mein T-Shirt war völlig verschwitzt, und ich weinte stundenlang ins Kissen. Irgendwann begann ich, meine Wut, meinen Schmerz und meine Hilflosigkeit in ein Schulheft zu schreiben, das mein Tagebuch werden sollte, denn die Last drohte mich zu erdrücken und ich war noch lange nicht so weit, mich jemandem anzuvertrauen.
Die schwierige Balance zwischen Stärke und Hilflosigkeit
Ich merkte zwar immer wieder, dass ich nicht so wie all die anderen Mädchen in meinem Alter war, aber ich wusste nicht warum. Oft beneidete ich die anderen um ihre Unbeschwertheit und darum, dass sie immer glücklich und gut gelaunt zu sein schienen. Ich habe mir oft gewünscht, auch so frei zu sein wie sie, und wenn es nur für einen kurzen Moment gewesen wäre. Trotzdem suchten Mitschüler immer wieder meine Nähe, denn ich war eine gute Freundin. Meist waren es die, die wenig Selbstbewusstsein hatten und auf die ich wohl stark und unverletzlich gewirkt haben muss. Sie suchten meinen Rat, weil sie wussten, dass ich mich für sie einsetzen und sie stärken und unterstützen würde. Darin war ich gut und bin es noch. Vielleicht habe ich diese Eigenschaften besonders entwickelt, weil ich auf diese Art
auch von meinen eigenen Problemen abgelenkt wurde. Mir selbst konnte ich damals nicht helfen und jeder andere, der es versuchte, scheiterte, weil ich es nicht zuließ.
Weil ich es in unserer kleinen Wohnung, wo alle aufeinanderklebten, kaum noch aushielt, schloss ich mich oft auf der Toilette ein, um für mich zu sein und vor mich hin zu träumen, oder ich huschte mit einem Handtuch und einem Stück Seife hinunter ins Badezimmer, wenn ich sicher war, dass keiner stören würde, um mich zu duschen. In die Badewanne legte ich mich erst gar nicht, weil sie von allen Hausbewohnern benutzt wurde und ich mich davor ekelte.
Wenn meine Schwester mal nicht in unserem Zimmer war, hörte ich Mariah Carey rauf und runter. Ich kannte jeden Songtext auf der Kassette auswendig und »Hero« war mein Lieblingslied und rührte mich zu Tränen.
Nachdem ich nicht mehr mit Stefan zusammen war, ging es mit mir irgendwie bergab, denn da ich meine Zeit ja vor
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