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Das Mädchen, das nicht weinen durfte

Titel: Das Mädchen, das nicht weinen durfte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khadra Sufi
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schaffen das schon, glaub mir«, sagte er, aber es gab keine tröstenden Worte, die verhindern konnten, dass meine Traurigkeit mich innerlich von ihm weg, zurück in mich selbst zog. Ich ließ ihn nicht an mich ran und konnte auch nicht über meine Gefühle sprechen.
    Diese Angst vor Verletzung war auch der Grund, warum ich seinen Zärtlichkeiten bisher ausgewichen war. Auf der Rheinpromenade hatte er mich zum ersten Mal geküsst und ich hatte mich
danach gesehnt, ihm weiterhin auch körperlich nahe zu sein, mir war schwindlig geworden vor Glück in seinen Armen. Wenn wir in seinem Zimmer mal allein gewesen waren, hatten wir auf dem Bett gelegen, Musik gehört, uns geküsst und er hatte begonnen, mich überall zu streicheln, fast überall. Ich hatte seine liebevolle Nähe genossen, mich an ihn geschmiegt und mich sicher gefühlt. aber es hatte lange Zeit einen Punkt gegeben, an dem ich abblockte und weinte, an dem unsere Intimität mir Angst gemacht hatte, weil es uns verboten war - und weil meine Erinnerung an Jassar wieder hochgekommen war.
    Wir wussten also jetzt, dass unsere Eltern unsere Liebe nicht wollten, und es dauerte ein paar Tage, bis ich mich Stefan gegenüber wieder öffnen konnte. Wir trafen uns seltener, heimlich und bei ihm zu Hause sahen wir uns nur, wenn seine Familie nicht da war oder er mir offiziell Nachhilfe gab. Seine Mutter machte dann wie zufällig die Terrasse vor seinem Fenster sauber, um uns beobachten zu können, aber wir nutzten jede Gelegenheit, uns näherzukommen. Und obwohl ich ihm nie gesagt hatte, was mich blockierte, drängte Stefan mich nie, sodass auch ich mich irgendwann nach unserem ersten Mal sehnte und wir darüber gesprochen hatten, bis es dann passierte. Aber es sollte noch Jahre dauern, bis ich es genießen konnte.
    Die Beziehung mit Stefan scheiterte nach wenigen Monaten, weil mich die Heimlichtuerei immer mehr frustrierte, hinzu kamen die Sorgen daheim. Es war eine schwere Zeit für mich, in der ich nicht daran glaubte, jemals in meinem Leben glücklich sein zu dürfen. Tausend schlimme Erinnerungen rumorten in mir, die ich über all die Jahre verdrängt hatte und die mich immer dann wieder nach unten zogen, wenn es gerade so aussah, als hätte auch ich eine Chance auf Glück. Vor diesem Hintergrund hatte es Stefan sehr schwer mit mir, er konnte ja nicht ahnen, was in mir vorging. Ich versank immer tiefer in Trauer und konnte irgendwann nicht mehr verbergen, dass es mir schlecht ging. Ich
wollte allein sein und niemandem zur Last fallen, weil ich das Gefühl hatte, dass mir sowieso keiner hätte helfen können. Ich musste selbst mit all dem fertig werden, und so trennte ich mich von Stefan.

Ein böses Déjà-vu
    Es war nicht ungewöhnlich, dass viele laute Stimmen aus dem Wohnzimmer drangen, denn mein Vater bekam oft Besuch von Landsleuten, mit denen er sich angeregt unterhielt. Als ich eines Tages am späten Nachmittag nach Hause kam, wunderte ich mich trotzdem über die äußerst gute Stimmung, sogar meine Geschwister lachten und kreischten, und das war ungewöhnlich, denn normalerweise waren ihnen die Gespräche der Erwachsenen zu langweilig. Neugierig lugte ich durch den Türspalt hinein, ich kannte kaum einen der Besucher und alle hatten sich um einen versammelt, der gerade lauthals lachend seinen Kopf in den Nacken warf. Jassar war da. Ich grüßte nur beiläufig in den Raum und nickte ihnen zu.
    Es war so lange her, dass wir uns gesehen hatten, damals war ich noch ein kleines Mädchen gewesen, aber er hatte sich überhaupt nicht verändert, das Dreitagebärtchen über seiner Oberlippe, immer noch dieselbe Art, in der er mit den anderen herumflachste und lachte. Aber ich war nicht mehr die kleine Khadra, die um seine Aufmerksamkeit rang, ich war jetzt eine junge Frau, ich überragte meinen Vater und meine Mutter schon um einen halben Kopf. Ich war selbstbewusst und hatte einen Charakter, eine Persönlichkeit, die geprägt war von dem, was ich erlebt hatte. Auch von dem, was ich mit ihm erlebt hatte. Als ich ihn sah, war es plötzlich, als laufe alles vor meinen Augen noch mal ab, all das, was ich jahrelang verdrängt hatte. Ich wusste genau, was er mir angetan hatte, und jetzt schlug mir die Wucht der Erinnerung
noch einmal mitten ins Gesicht. Ich war so wütend darüber, dass er so dreist war, hier aufzutauchen, dass er so tat, als wäre nichts geschehen, dass er lachen konnte, obwohl mir sein Anblick Schmerz zufügte. Aber ich konnte diese Wut nicht rauslassen

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