Das Mädchen, das nicht weinen durfte
war neugierig, was wohl passiert war.
»Ein Fernsehteam ist unterwegs«, erklärte er uns. »Die wollen mich filmen.« Dann rannte er ins Schlafzimmer.
»Was? Warum wollen sie dich denn filmen?«, rief ich ihm nach und setzte mich in der Küche auf einen Stuhl. Ein Fernsehteam zu meinem Vater? Wieso das denn? Dann kam er mit einer Urkunde in der Hand und einem kleinen, viereckigen Kästchen aus tiefblauem Samt in die Küche. Es war eine edle Schatulle, und so behutsam, wie Papa sie in der Hand hielt, musste darin etwas sehr Wertvolles sein. Vorsichtig streckte er mir die Schatulle entgegen und öffnete sie langsam. Auf einem blauen Samtkissen lag ein rotes Kreuz, auf dem in der Mitte ein Adler abgebildet war. Es hing an einem breiten Band mit den Farben der Bundesrepublik: Schwarz, Rot, Gold.
»Das ist mein zweites Bundesverdienstkreuz! Darum wollen sie mich filmen.« Er war so stolz, und ich nahm ihm die Urkunde aus der Hand und las sie laut vor:
»Verleihungsurkunde. In Anerkennung der um die Bundesrepublik Deutschland erworbenen besonderen Verdienste verleihe ich Herrn Basi Mohamed Sufi, Somalia, das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. Bonn, den 28. April 1969. Der Bundespräsident. Gezeichnet: Lübke.«
In der Ordensbegründung, die mir das Bundespresseamt im August 2009 dankenswerterweise zur Verfügung gestellt hat, heißt es weiter:
»Herr Basi M. Sufi war von Dezember 1962 bis Mai 1968 an der hiesigen Botschaft der Republik Somalia, zuletzt als Botschaftsrat, tätig. Er wurde aus Anlass des Staatsbesuches im Jahre 1965 mit dem Verdienstkreuz 1. Klasse ausgezeichnet. Seit seiner Rückkehr aus Bonn bekleidet Herr Sufi das Amt eines Kabinettsdirektors (stellv. Kabinettschef) im Amt des Premierministers. Er steht mit der deutschen Botschaft in Mogadischu in betont freundschaftlicher Verbindung und hat seinen in der somalischen Verwaltungshierarchie hohen und einflussreichen Posten bereits wiederholt für die Förderung deutscher Belange genutzt. Ende November 1968 nahm er im Auftrag des somalischen Premierministers als Begleiter des somalischen Finanzministers an Regierungsverhandlungen in Bonn teil. Herr Basi M. Sufi war auf somalischer Seite der Hauptinitiator für die Gründung der Deutsch-Somalischen Gesellschaft in Bonn.«
Damals, in der Küche des Flüchtlingsheims in Bad Godesberg, verstand ich noch nicht richtig, wie wichtig diese Auszeichnung war. Ich wollte mir das Kreuz mal genauer ansehen und streckte meine Hand danach aus. »Nein!«, zog Papa die Schatulle weg, »nicht anfassen.« Ich musste lachen und neckte ihn.
»Ich will doch nur gucken, ich werd’s schon nicht auffressen.« Aber er ließ nicht mit sich spaßen.
»Nein, nein, es bleibt da drin, ich hab das Original schon im Krieg verloren und erst hier ein neues bekommen.« Auch als tatsächlich kurz darauf Leute vom Fernsehen kamen, ein ganzes
Team mitten in unserem winzigen Flur stand und mit ihm im Wohnzimmer drehte, ließ er keinen das Kreuz berühren.
»Die Helden aus Mogadischu leben heute von Sozialhilfe«, so oder ähnlich lautete der Titel des Beitrags. Den Reportern ging es nämlich nicht nur um die beiden Bundesverdienstkreuze, die er 1965 und 1968 bekommen hatte. Ihr Interesse galt vielmehr der Tatsache, was aus dem Mann geworden war, der nach der Entführung der Lufthansa-Maschine »Landshut« im Oktober 1977 geholfen hatte, die Geiseln zu befreien. Und während ich dem Interview und den Erzählungen meines Vaters lauschte, erfuhr ich, dass er damals als deutschsprachiger Diplomat im Auftrag des somalischen Diktators Siad Barre mit dem deutschen Unterhändler, Staatssekretär Hans-Jürgen Wischnewski, vermittelt hatte. Mein Vater hatte dabei geholfen, den Zugriff der deutschen Eliteeinheit GSG 9 zu ermöglichen. Dennoch musste er jetzt in Deutschland als Asylant leben, von Sozialhilfe, in einer Notunterkunft. Und selbst dafür hatte er kämpfen müssen.
Warum?
Ich erfuhr es auch erst im September 2009 von Manfred Obländer, der ein sehr enger Freund meines Vaters gewesen war und ohne den unser Traum von der Rückkehr nach Deutschland in der 17. Etage eines Hochhauses in Kairo geplatzt wäre. Mein Vater hatte für Mogadischu kein drittes Bundesverdienstkreuz bekommen, es erhielt der damalige Botschafter in Bonn, Yusuf Adan Bokah, stellvertretend für die somalischen Helfer. Alle Minister und Abgeordneten hatten sich ihm zu Ehren von den Sitzen des Deutschen Bundestags erhoben und
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