Das Mädchen, der Koch und der Drache - Roman
Und das lässt sie ihn spüren. Sie geht viel mehr aus sich heraus als bisher, und ihre Liebe zur Musik und die Liebe zu Oswald scheinen ihr ein und dasselbe.
Kurz nach Mitternacht ist der Tumult vorbei. Während alle beim Aufräumen sind, starrt Mendy den Kassenzettel mit geweiteten Pupillen an, als ob sie halluzinierte. Ist das überhaupt möglich? Der Umsatz hat sich versiebenfacht! Mendy möchte am liebsten ihrem Küchenchef Tubai einen Kuss geben, aber das bringtsie dann doch nicht über sich.
Als Mendy die Kasse zur Aufbewahrung zu Stiefmutter Yeye nach oben trägt, hat sie das Gefühl, heute Abend den Olymp erklommen zu haben. Und der Lorbeerkranz liegt in der Kasse für sie bereit.
Anschließend, als sie wieder unten ist, überlegt sie kurz, ob sie sich umziehen soll. Sie entscheidet sich dagegen. In dem Kostüm, das Oswald für sie entworfen und besorgt hat, fühlt sie sich wie sein Geschöpf. Er hat sie auf die Bühne erhoben und sie zur Sängerin gemacht – und jetzt wird er ihr erster Mann sein.
Aber als sie aus dem Restaurant kommt und auf Oswalds Auto zugehen will, nähert sich ein schwarzer BMW und versperrt ihr den Weg. Ein bulliger Chinese im schwarzen Anzug steigt aus und geht auf sie zu. Sein linkes Augenlid hängt herunter, sodass er irgendwie schläfrig wirkt. Mendy kennt ihn nicht. Er stellt sich auch nicht vor, sondern sagt nur, dass Boss Hong ihn geschickt habe. Er solle Mendy in ein Restaurant in Wilmersdorf bringen. Boss Hong habe wichtige Nachrichten von ihrem Vater für sie.
Mendy fürchtet, ihrem Vater könnte etwas Schlimmes zugestoßen sein. Sie lässt Oswald allein nach Hause fahren und steigt in das fremde Auto ein.
Tatsächlich wartet Boss Hong im italienischen Restaurant La Traviata auf sie. Wie immer schimmert seine Haut etwas rötlich, und sein Gesicht wirkt wie aus Kupfer getrieben. Neben seinen Füßen steht ein kleiner, eleganter Koffer, so als wolle er auf Reisen gehen. Kaum hat sich Mendy gesetzt, beginnt er von ihrem Auftritt zu schwärmen und lobt auch sehr ihr Kostüm. Es sei ihm aufgefallen, sagt er, dass sie die ganze Nacht das Kleid nicht gewechselt habe. Es sei ja auch sehr nett, aber ein einziges Kleid sei viel zu wenig für eine schöne Sängerin. Er stellt den Koffer auf einen Stuhl und öffnet ihn. »Ein Geschenk für dich«, sagt er.
Da kommt ein glänzendes Farbenmeer zum Vorschein. Mendy schaut genau hin. Es sind drei Kostüme aus Seide. Alles von bester Qualität, das sieht Mendy sofort. Als sie darunter noch drei chinesische Qipaos entdeckt, schlägt ihr das Herz bis zum Hals. Diese Kleider sind oben eng anliegend und haben unten an den Seiten zwei Schlitze, sodass man die Beine der Frauen beim Gehen für einen kurzen Augenblick nackt sieht.
Früher haben alle schönen Frauen das Qipao getragen. In Maos Ära wurde es dann als Symbol der kapitalistischen Dekadenz abgestempelt, und niemand wagte es, solche Kleider noch anzuziehen. Erst in jüngster Zeit sieht man bei feierlichen Anlässen dieses »Bannerkleid« wieder. Schon als Teenager hatte Mendy sich zum achtzehnten Geburtstag ein Qipao gewünscht. Doch dann war ihre Mutter gestorben und konnte ihren Wunsch nicht mehr erfüllen. Jetzt hat sie plötzlich drei davon, wie sollte sie da nicht aufgeregt sein! Sie streichelt die glänzende Oberfläche und hält sich eins davon an die Brust, um zu sehen, ob es ihr passt. Aber als sie den Blick des Mannes sieht, errötet sie und legt das Kleid hastig wieder zurück.
»Die sind wunderschön«, sagt sie kühl. »Aber ein sogroßes Geschenk kann ich nicht annehmen. Ich habe ja gar nichts für Sie getan.«
»Ach, weißt du, das ist eine Investition«, sagt Boss Hong. »Dein Vater ist mein Geschäftspartner. Wenn es dir gut geht, hat er eine Sorge weniger und kann sich besser auf unsere Geschäfte konzentrieren.« Und als Mendy erneut versucht, das Geschenk abzulehnen, sagt er: »Du wirst deinen Vater doch nicht beleidigen, oder? Der hat sie geschickt.« Als sie Genaueres wissen will, gibt der Mann keine Antwort. Mendy bleibt nichts anderes übrig, als das Geschenk anzunehmen und sich zu bedanken.
»Was ist mit meinem Vater? Sie wollten mir doch etwas von ihm erzählen«, sagt Mendy.
Der Goldene Drache stößt einen Seufzer aus. »Dein Vater war überhaupt nicht einverstanden, dass ein Konzert in eurem Restaurant stattfindet. Er hat mich heute Mittag schon angerufen und gesagt, ich solle das unterbinden. Ich habe ihm lange zugeredet, bis er einsah, dass es
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