Das Mädchen, der Koch und der Drache - Roman
Allerdings werde er am Konzertabend und die Tage davor ein paar tüchtige Küchenmitarbeiter brauchen. Mendy stimmt zu und macht ihn für das Jubiläum zum Küchenchef.
Je näher der Konzerttermin rückt, desto nervöser wird Mendy. Sie hat keinerlei Bühnenerfahrung und fürchtet außerdem, das Restaurant könne leer bleiben. Oswald meint, es würden genug Leute kommen, auch wenn noch Ferien seien. Als die Berliner Zeitung zwei Tage vor dem Konzert einen Artikel über seine Musikveröffentlicht, ist er sich eines Publikumsansturms sicher. Tubai ist nicht in der Lage, den Artikel zu lesen. Er glaubt eher an Mendys Beliebtheit bei den Stammgästen und bereitet sich dementsprechend auf ein großes Essen vor. Immerhin liegen auch schon ein paar Tischreservierungen vor.
Dann kommt der große Tag. Der Raum wird mit roten Lampions und Plakaten mit goldenen chinesischen Schriftzeichen geschmückt, als stünde eine Hochzeit bevor. Schon am Nachmittag kommen Freunde, Bekannte, Nachbarn, Stammgäste, Fans und Neugierige. Mendy fühlt sich, als hätte sie heißen Pflaumenwein getrunken. Lange vor Beginn des Konzerts sind alle Tische besetzt. Diejenigen, die keinen Sitzplatz ergattern, stehen in kleinen Gruppen herum, kaufen Bons für das Buffet und plaudern miteinander. Die Stimmung ist prächtig.
Mendys Herz flattert wie ein Drachen im Sturm, als sie das bis auf den letzten Platz gefüllte Restaurant sieht. Mit so vielen Besuchern hat sie nicht gerechnet. Um das Lampenfieber zu dämpfen, nippt sie an einem eiskalten, alkoholfreien Fruchtcocktail, den Tubai extra für sie gemixt hat. Danach fühlt sie sich ein wenig besser.
In der Küche herrscht Hochbetrieb. Teller flitzen von einer Hand zur anderen. Flammen summen. Drei Köche schwingen ihre Arme mit einer Geschwindigkeit und Geschmeidigkeit wie Kung-Fu-Meister. Nur Koch Lin lässt sich nicht blicken. Er hat sich wegen seiner steifen Schulter wieder mal krankgemeldet.
Schließlich treten Oswald und Marcel als Erste auf die Bühne und stimmen das Publikum mit ihren Instrumenten auf das Konzert ein. Mendy, die hinten im Büro sitzt und den Applaus mitbekommt, fällt ein Stein vom Herzen.
Jetzt hört sie Oswald ins Mikrofon sprechen: »Stellen Sie sich vor, eines Tages kommt ein Orangenbaum auf eine Apfelbaumwiese geflogen. Die Apfelbäume wachen auf und verlieben sich in den duftenden Baum. Sie tanzen um ihn herum und rascheln mit ihren Blättern. Doch der Orangenbaum starrt in die Ferne. Er vermisst ein Mädchen, das einst in seinem Schatten sang. Es war das schönste Lied, das er je gehört hat. Hier ist sie, die Sängerin Mendy, deren Stimme der Orangenbaum abgöttisch liebt!«
Die Gäste applaudieren höflich. Als Mendy die Bühne betritt, verstummt der Beifall, und alle schauen sie gespannt an. Sie trägt ein grün schimmerndes Abendkleid, in dem sie wie fließendes Glas erscheint, wenn sie sich in den Hüften wiegt. Nichts von ihrer sonstigen Aschenputtel-Erscheinung ist zu sehen. Das Gesicht zur Decke erhoben, stößt sie ein sinnliches Seufzen hervor, bevor sie mit dem Singen beginnt:
»Ich warte auf dich, meine Liebe, unter dem Orangenbaum auf dem Hügel. Ich hab ihn geküsst und gestreichelt, als wäre er du. Es dämmert schon, und ich warte auf dich …«
Als Mendy ihr Lied beendet hat, jubeln die Gäste. Einen Augenblick fragt sie sich, ob der Applaus nichtironisch gemeint ist, doch Oswalds Gesichtsausdruck sagt eindeutig, dass sie die Erwartung des Publikums übertroffen hat. Ein kleines Lächeln umspielt ihre Mundwinkel, und sie ist glücklich.
Als das Konzert vorbei ist, tritt die große Eisenschwester Yulin auf die Bühne, umarmt Mendy herzlich und lobt ihre Stimme. Sie sei so erfrischend wie Pfefferminz, sagt sie und drückt ihr einen großen Blumenstrauß in die Hand. Mendy schwebt wie auf Wolken. Es wird gesungen, getanzt, gegessen und gelacht.
Nach dem Konzert wollen die Gäste noch längst nicht nach Hause gehen. Peipei, in Kellnerkleidung und mit einer roten Rose im Haar, springt auf die Bühne und ruft, sie wolle auch etwas singen. Marcel und Oswald begleiten das Lied. Peipei zieht eine lüsterne Schau ab: Beim Singen fährt sie sich mit der Hand zwischen die Beine und stößt mit den Hüften, als läge sie in den Armen des Teufels. Das Publikum johlt. Mendy empfindet das als Herausforderung und kehrt erneut auf die Bühne zurück. Sie ist so glücklich über ihren Erfolg, dass sie beschlossen hat, sich Oswald noch in dieser Nacht hinzugeben.
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