Das Mädchen, der Koch und der Drache - Roman
fragt Mendy noch einmal nach.
»Die waren beide bis zum Rand voll«, sagt Tubai. »Warum fragst du?«
»Ach, nichts.« Mendy will das Gespräch nicht vertiefen. »Ich muss jetzt los.« Sie winkt noch einmal, dann schlägt sie die Tür zu.
Als sie eine Stunde später mit Michael die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufsteigt, duftet es schon im Hausflur so herrlich, dass sie für einen Augenblick glaubt, sie wäre wieder bei ihren Eltern zu Hause und alles wäre wie früher, als die Mutter noch gesund war und der Vater zum Frühlingsfest aus dem Ausland zurückkam. Wie lange sie das vermisst hat!
Aber nach dem Essen sagt Tubai, er wolle nach Potsdam ins Asylantenheim fahren. Er habe ja keine Arbeit und auch keine Unterkunft mehr. Dann zieht er das kleine Handy hervor, das ihm Mendy geschenkt hat. »Rufst du mich an, wenn ich dir helfen kann? Oder willst du es wieder zurück?«
Mendy erschrickt. »Bleib hier«, bittet sie. »Du kannst dich um Michael kümmern. Ich habe dafür nicht viel Zeit. Ich muss doch das Restaurant retten!«
Tubai lässt sich überreden. Mendy richtet das Sofabett für ihn und den Jungen her, dann schieben sie zusammen das einzige Regal vor Mendys Bett und spannen einen Vorhang davor, damit sie einen abgetrennten Raum für sich hat. Schon hat sich die Einzimmerwohnung in eine Notunterkunft für drei Personen verwandelt.
Die Nacht wäre ruhig verlaufen, wenn der Junge in seinen wilden Träumen nicht ins Bett gemacht hätte. Aber Tubai macht kein Theater daraus. Er zieht dem Jungen trockene Sachen an und steckt ihn wieder unter die Decke. Mendy bleibt gleich im Bett liegen, weil Tubai ihr verboten hat, aufzustehen. Sie hört seine leisen Schritte und seine raschen Bewegungen und fühlt sich zutiefst geborgen.
Kapitel 8
Keine Rettung in Sicht
Mitte März gibt es einen Aufruhr in Lhasa. Tibetische Mönche und Rebellen stecken Läden und Fabriken in Brand. Dutzende Han-Chinesen werden erschlagen. Die Regierung in Peking schickt Panzer und die Armee auf die Straße, um die Lage unter Kontrolle zu bringen. Als die Fotos mit den Panzern um die Welt gehen, empfinden viele Deutsche Mitleid mit den Tibetern. Es kommt zu Sympathiebekundungen. Menschen gehen auf die Straße und verlangen: »Free Tibet!«
All das geht an Mendy vorbei wie das Spiel der Wolken am Himmel. Das halb verbrannte Restaurant drückt ihr aufs Herz wie ein glühender Lavabrocken. Sie ist sich inzwischen ganz sicher, dass der Brand von menschlichen Händen gelegt wurde. Aber wer war der Brandstifter? Koch Lin Yaonan? Nachdem er beim Diebstahl ertappt wurde, hegt er gewiss einen Groll gegen das Restaurant. Er würde sich bestimmt freuen, wenn es Mendy und ihrer Familie schlecht ginge. Aber würde er deshalb gleich einen Brand legen? Er hat ja auch einiges zu verlieren.
Haben die Schutzgelderpresser die Finger im Spiel? Aber sie haben doch brav bezahlt. Gibt es noch eine konkurrierende Bande, die sie bisher gar nicht in Betracht gezogen haben? Mendy erschaudert.
Boss Guan, der sich noch immer in China aufhält, hat am Telefon gleich zu schimpfen begonnen. Seine Tochter sei eine Versagerin. Das Konzert sei ein Fluch und eine Teufelsfeier gewesen. Sie habe den Feinden die Tür zur Strahlenden Perle geöffnet und schlechtes Feng-Shui hereingelassen. Da sie alles im Alleingang beschlossen habe, solle sie sehen, wie sie die Sache wieder in Ordnung bringe.
Mendy wäre nie auf die Idee gekommen, dass Musik und Gesang das Feng-Shui verschlechtern können. Hat womöglich einer der Konzertbesucher etwas Gefährliches im Lokal hinterlassen? Ungewissheit und ein heftiges Schuldgefühl quälen sie. Mit unterdrücktem Schluchzen verspricht sie, ihr Bestes zu tun und den Schaden wiedergutzumachen, ganz gleich, was sie dafür tun muss.
Um keine Zeit zu verlieren, beschließt Mendy, gleich mit der Renovierung anzufangen, sobald die Polizei die Sperrung aufgehoben hat. Aber wo soll sie das Geld hernehmen? Die Versicherung will auf die Untersuchungsergebnisse der Polizei warten. Aber so lange kann Mendy nicht warten. Jeder Tag, an dem die Strahlende Perle geschlossen bleibt, kostet Kundschaft. Sie wird sich Geld von Bekannten und Freunden borgen, um die Renovierung so schnell wie möglich in Gang zu bringen.
Unterdessen führt die Polizei ihre Untersuchungen fort und stößt auch auf eine verdächtige Spur. In den verkohlten Überresten der Bühne haben sie eine Verlängerungsschnur mit einer Mehrfachsteckdose gefunden, die völlig verschmort ist.
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