Das Mädchen in den Wellen
flackerten.
»Stromausfall?«, fragte Annie.
»Möglich«, antwortete Nora.
»Na toll«, brummte Ella. »Dann wird’s jetzt arschkalt und finster, und ich stoß mir in der Dunkelheit die Zehen an.«
»So kalt ist es auch wieder nicht. Du kannst ja noch nicht mal den Atem vor dem Mund sehen.«
»Für heute Abend haben wir genug Brennholz«, sagte Nora. Morgen würde sie Treibholz zum Trocknen vom Strand holen müssen. »Und Kerzen, falls der Strom tatsächlich ausfällt. Tante Maire hat einen Generator. Wenn alle Stricke reißen, gehen wir zu ihr.«
»In dem Sturm schickt man keinen Hund vor die Tür«, meinte Ella. »Da ist man in null Komma nichts bis auf die Knochen nass.« Der Regen strömte tatsächlich an den Fensterscheiben herunter. »Warum sind wir nicht irgendwohin gefahren, wo’s warm ist, zum Beispiel in die Karibik?«
Dort hatten sie den Winterurlaub verbringen wollen, bevor der Skandal ihre Pläne durchkreuzte.
»Der Sturm müsste bald vorbei sein«, sagte Nora. »Man sieht den Mond schon.« Er tauchte in der Tat hin und wieder über der donnernden Brandung auf wie das Licht eines himmlischen Leuchtturms.
»Ja?« Annie rückte einen Stuhl heran und schaute, Ellbogen auf dem Fensterbrett, hinaus. »Tante Maire sagt, früher wären Schiffe hier zerschellt.«
»Gleich kommen die Geister rauf zu dir«, drohte Ella ihr. »Das machen sie gern bei Leuten, die sie durchs Fenster beobachten. Wenn sich eure Blicke treffen, stellen sie eine Verbindung her, du lässt sie sozusagen herein.«
»Auf dich würden sie sich zuerst stürzen, weil du so gemein bist.«
»Hört, hört!«
Nora seufzte. Ihre Arme steckten bis zu den Ellbogen im Spülwasser, und sie wollte nicht wieder Schiedsrichterin spielen. Sie fragte sich oft, wie es gewesen wäre, wenn sie ein weiteres Kind gehabt hätte. Vor der Affäre hatten sie und Malcolm mit dem Gedanken gespielt. (Sie öfter als er, das musste sie zugeben.) Es hätte noch ein Kind gegeben, zwischen den Mädchen, wenn sie in jenem Winter vor neun Jahren keine Fehlgeburt erlitten hätte. Am Anfang hatte sie mit niemandem über ihre Schwangerschaft geredet, und am Ende hatte sie behauptet, sie hätte sich eine Grippe zugezogen, weil sie das Mitleid anderer Leute nicht ertrug. Obwohl Malcolm ihr nach Kräften beigestanden hatte, hatte sie sich in jenen Wochen allein gefühlt. Wenn er zur Arbeit ging, war sie allein zurückgeblieben, Ella in der Vorschule, ein Schwarz-Weiß-Film nach dem anderen im Fernsehen, Leoparden küsst man nicht , Casablanca , Der dritte Mann , geliebte Klassiker, die den Nebel aus ungläubiger Trauer nicht durchdringen konnten, bis sie es schließlich nicht mehr länger im Bett ausgehalten hatte. Sie hatte Angst gehabt, es noch einmal zu versuchen, Angst in den ersten Wochen der Schwangerschaft mit Annie, doch die war, anders als bei Ella, wie die Geburt ohne Komplikationen verlaufen.
Nun beobachtete sie ihre heranwachsenden Töchter durch die offene Küchentür des Cottage und sann darüber nach, wie schnell die Jahre vergangen waren, vom Baby und Kleinkind zum Kind und Teenager. Annie mit dem Gesicht an der Fensterscheibe, Ella mit der Nase in einem Buch.
Annie begann zu winken. »Ich winke den Wellen zu. Und sie winken immer zurück.«
»Was für eine Weisheit«, schnaubte Ella, ohne den Blick zu heben.
»Ich sehe was«, sagte Annie.
»Du siehst ständig irgendwas«, erwiderte Ella.
»Nein, wirklich. Da ist jemand unten an den Felsen. Er rührt sich nicht.«
»Wahrscheinlich ein Seehund«, meinte Ella.
»Ich kenne den Unterschied zwischen einem Menschen und einem Seehund«, wehrte sich Annie und fügte mit leiserer Stimme hinzu: »Was, wenn er tot ist?«
»Das wär doch mal was Interessantes«, brummte Ella.
»Mama!« Annie wandte sich an Nora.
»Lass mich schauen.« Nora trat zu Annie ans Fenster.
Ja, tatsächlich: Da lag etwas, jemand auf einem Felsvorsprung. »Bleibt hier.« Sie schlüpfte in eine Regenjacke. »Ich bin gleich wieder da.«
Nora stemmte sich gegen den Wind, der ihre Jacke bauschte und ihr die Kapuze herunterriss. Sekunden später war sie bis auf die Knochen nass. Wasser rann ihr den Rücken hinunter, die Haare klebten ihr am Kopf. Der Regen prasselte so heftig hernieder, dass sie kaum noch etwas sah. Wolken, die am Mond vorbeijagten, warfen Schatten auf den Strand, flüchtig, geisterhaft. Es war leicht, sich Dinge einzubilden, die nicht da waren. Das Meer donnerte gegen die Felsen, dass die Gischt hochspritzte.
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