Das Mädchen in den Wellen
Kiesel und Muscheln klackerten über den Strand. Während Nora, die in ihrer Eile keine Gummistiefel angezogen hatte, auf dem rutschigen Weg dahinstolperte, schaute sie zu Maires dunklem Haus hinüber. Dies war keine Zeit, zu der man sie wecken konnte.
Sie glitt die Uferböschung hinunter und wäre bei einem Sprung über die Felsen fast ausgerutscht. Jetzt sah sie mehr. Es war tatsächlich ein Mann, der wie schlafend auf der Seite lag. Sie rief ihm etwas zu, doch er rührte sich nicht. Nora bemühte sich, ruhig zu bleiben, sich an den Erste-Hilfe-Kurs zu erinnern, den sie vor Jahren, nach Ellas Geburt, absolviert hatte. Sie fühlte seinen Puls, überprüfte, ob er atmete. Ja. Er lebte. »Hallo«, sagte sie ihm leise ins Ohr. »Können Sie mich hören?« Flackerten seine Augenlider? Sicher konnte sie sich bei dem heftigen Regen nicht sein. Seine Haut war gebräunt und wettergegerbt, als hätte er viel Zeit im Freien verbracht. Bestimmt ein Fischer. Eine Narbe an seiner Stirn, weitere an seinen Armen und seiner Brust, das Gesicht grobknochig, die Kleidung – oder besser gesagt: was davon noch übrig war, von den Wellen zerfetzt, die Füße nackt. An seinem Kopf eine klaffende Wunde, an anderen Stellen Abschürfungen und Kratzer; die üble Kopfverletzung musste wahrscheinlich genäht werden. Nora riss einen Ärmel von ihrer Arbeitsbluse, faltete den Stoff, drückte ihn gegen seine Schläfe, spürte das warme Blut unter ihrer Hand. Am meisten Angst hatte sie vor Unterkühlung. Sie musste ihn wärmen. Nora legte ihm ihre Jacke, so gut es ging, um die Schultern.
Wie war er hier gelandet? Es war, als hätte das Meer ihn ausgespien. Er lag halb tot auf den Felsen, zu schwer zum Tragen. Sie konnte ihn nicht einfach liegen lassen. Das Wasser stieg, kam näher. Bald würde er wieder in die Fluten gerissen werden.
»Es ist ein Mann!«, rief Annie aus. »Schau …«
»Ich hab euch doch gesagt, ihr sollt drinnen bleiben.« Nora drehte sich zu ihren Töchtern um, die in ihren neuen Regenjacken und Gummistiefeln und mit großen Augen dastanden. »Ich will nicht, dass euch was passiert.«
»Wir wollen helfen«, beharrten sie, ausnahmsweise einmal einer Meinung.
»Ist er tot?«, fragte Ella.
»Nein, nur verletzt.«
»Schlimm?«
»Keine Ahnung. Lauft zu Tante Maire und weckt sie auf. Sie weiß bestimmt, was zu tun ist«, sagte Nora. »Beeilt euch!«
Sie rannten los.
Der Mann schlug die Augen auf. »Wo bin ich?«, fragte er mit tiefer Stimme.
»Am Glass Beach, auf Burke’s Island. Wir müssen Hilfe holen …«
»Mir fehlt nichts.« Er wirkte erstaunlich ruhig. Vielleicht stand er unter Schock.
»Doch«, widersprach sie. »Sie haben eine große Wunde am Kopf und laufen Gefahr, sich zu unterkühlen …«
»Mir ist nicht kalt.« Er sah sie mit großen, fast schwarzen Augen an und berührte ihre Hand. »Fühlen Sie.«
Sie wich zurück. Es war etwas Merkwürdiges an dieser Berührung, die Wärme und etwas anderes, das sie nicht benennen konnte. »Was ist passiert? Hatten Sie einen Unfall?«
»Wahrscheinlich.«
»Warum waren Sie bei diesem Wetter draußen?«
»Keine Ahnung.«
»Ihr Boot …« Sie ließ den Blick über die Wellen und Felsen schweifen. Nichts. Es musste schnell gesunken sein, in einiger Entfernung vom Ufer.
»Immerhin lebe ich noch«, stellte er fest. »Apropos Unterkühlung: Sie scheinen ohne Jacke unterwegs zu sein.«
»Die habe ich Ihnen gegeben«, erklärte sie. »Bitte bewegen Sie sich nicht. Meine Tante muss jeden Moment da sein. Sie kennt sich aus in medizinischen Dingen.«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich keine Hilfe brauche.« Er setzte sich ächzend auf, schüttelte die Jacke ab und reichte sie ihr. »Ich glaube, die passt Ihnen besser als mir. Ziehen Sie sie an. Sie zittern.«
Tatsächlich? Sie spürte ihre Hände vor Kälte fast nicht mehr und machte sich nicht die Mühe, die Jacke zu schließen. »Wer sind Sie?«, fragte sie. »Wie heißen Sie?«
Er runzelte die Stirn. »Ich weiß es nicht.«
Die Kopfverletzung schien schlimmer zu sein, als sie aussah. Nora wollte ihm gerade weitere Fragen stellen, als Maire und die Mädchen auftauchten.
»Wir sind da!«, rief Maire, den Erste-Hilfe-Kasten in der Hand. Der Regen prasselte unaufhörlich auf ihre Kapuzen, während sie sich im Halbkreis um den Mann aufstellten.
Im Mittelpunkt zu stehen, verwirrte ihn sichtlich. »Vielleicht sollte ich öfter Schiffbruch erleiden.«
»Es gibt einfachere Methoden, die Aufmerksamkeit einer Frau auf
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