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Das Mädchen in den Wellen

Das Mädchen in den Wellen

Titel: Das Mädchen in den Wellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heather Barbieri
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sich zu ziehen«, meinte Maire. »Lassen Sie sich mal anschauen.« Sie leuchtete ihm in die Augen, stellte Fragen und versorgte die Wunde.
    Maire hatte also auch eine andere Seite, dachte Nora: Sie war ruhig wie immer und dazu stahlhart.
    »Was sehen Sie?«, fragte er Maire.
    »Einen Mann, der von Glück sagen kann, dass er noch am Leben ist.«
    »Wohl wahr.«
    »Er weiß seinen Namen nicht mehr«, bemerkte Nora. »Es könnte was Ernstes sein …«
    »Eine Gehirnerschütterung, nichts weiter«, beharrte er. »Bitte machen Sie sich keine Umstände …«
    Maire wandte sich Nora zu. »Ich kümmere mich um ihn. Geh du mit den Mädchen nach Hause. In einer Nacht wie dieser haben sie draußen nichts verloren – und du auch nicht.«

SECHS
    A m nächsten Tag war der Himmel so blau, dass Nora sich fragte, ob sie sich die Ereignisse der Nacht nur eingebildet hatte. Doch an ihrer blutbefleckten Bluse fehlte ein Ärmel, ihre Jacke und ihre Schuhe waren schlammverkrustet, und in ihren Haaren und an ihren Lippen klebte Salz, der Geschmack ihrer Kindheit. Als sie heimgekommen waren, hatte sie sich einfach ausgezogen und war ins Bett gefallen – sie musste duschen. Da hörte sie, wie die Mädchen das Cottage verließen.
    »Wo wollt ihr hin?«, rief sie ihnen durchs offene Fenster nach, während sie ihre Haare zu einem Pferdeschwanz band. Sie hatte keine Ahnung, was die Mädchen den ganzen Tag trieben.
    »Wir schauen nach dem Schiffbrüchigen.«
    »Wahrscheinlich ist er in der Klinik oder auf dem Weg nach Hause«, sagte Nora. Wo auch immer das sein mochte. »Und wenn nicht, sollten wir ihn in Ruhe lassen. Er ist kein Tier im Zoo.« Außer Maires Haus gab es keinen Ort, an dem er hätte bleiben können, und sie glaubte nicht, dass ihre Tante ein solches Arrangement vorgeschlagen hatte.
    »Das wissen wir«, versicherte Annie. »Er ist ein Mensch. Aber er hat bestimmt Besuchszeiten.«
    »Die gibt’s nur in Krankenhäusern«, erklärte Nora. »Aber ich bezweifle, dass er in einem ist.«
    »Wir würden gern erfahren, was passiert ist, nachdem wir gegangen sind«, sagte Ella. »Du nicht?«
    Natürlich interessierte sie das auch, aber sie fand, dass sie wenigstens bis nach dem Frühstück hätten warten können.
    Die Mädchen machten sich auf den Weg zu Maire, bevor es Nora gelang, sie von ihrem Plan abzubringen.
    Nora schlüpfte in Jeans, Pullover und Turnschuhe und lief den Mädchen nach. Dabei fühlte sie sich wieder wie das Kind, das früher diese Wege entlanggerannt war, lachend, spielend, suchend, weinend.
    In Cliff House war es ruhig. Eine Reihe schwarz gefiederter Krähen gab vom Dach aus Kommentare zum Geschehen unten ab. Sie erinnerten Nora an die Frauen bei der letzten offiziellen Veranstaltung mit Malcolm, die hinter ihrem Rücken über sie getuschelt hatten, bevor der Skandal publik geworden war. Was ihn zu dem Seitensprung verführt hatte. Ob Nora zu dick oder einfach nur älter geworden war. Ob die andere Frau jünger, klüger oder schöner war. Die Vögel auf dem Dach musterten Nora, die Augen hart und glänzend wie Gagat.
    Der Klang der Mädchenstimmen brachte sie in die Gegenwart zurück. Als sie ihre Töchter einholte, redeten sie schon mit Maire, die Tomatenbüsche setzte, als wäre in der Nacht nichts Ungewöhnliches vorgefallen. Ihre Kelle schlug mit einem metallenen Geräusch gegen einen Stein in der Erde.
    »Wo ist er?«, fragte Annie.
    »Wer?« Maire beschattete die Augen mit einer behandschuhten Hand, ein Schmutzfleck an der Wange.
    »Der Mann vom Strand«, antwortete Annie. »Der Mann, den Ella für einen Seehund gehalten hat.«
    »Ich hab gesagt, es könnte ein Seehund sein«, wehrte sich Ella.
    »Er hatte Prellungen und musste verbunden werden – die Wunde war nicht so tief, wie sie auf den ersten Blick aussah –, aber sobald die Beule am Kopf zurückgeht und er sich erinnern kann, ist er wieder so gut wie neu. Er scheint aus hartem Holz geschnitzt zu sein, dieser Mann.« Maire klopfte mit befriedigtem Nicken die Erde fest.
    »Sobald er sich wieder erinnern kann?«, hakte Nora nach. Also war sein Gedächtnis noch nicht wiederhergestellt. »Hoffentlich hat er sich von einem Arzt untersuchen lassen.«
    »Er wollte nicht«, erklärte Maire und wandte sich Ella zu. »Komisch, dass du ihn für einen Seehund gehalten hast.«
    »Es war dunkel.«
    »Ist er da?« Annie stellte sich auf die Zehenspitzen.
    »Ja, ist er da?«, wiederholte Ella.
    »Er wollte sich nicht aufdrängen. Ich habe ihm die Fischerhütte auf

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