Das Mädchen in den Wellen
»Ich würde gern noch ein bisschen brauner werden.«
»Schwer zu sagen. Später könnte ein Sturm aufkommen«, antwortete Nora. »Aber um diese Jahreszeit ziehen die Gewitter schnell vorbei.«
»Woher weißt du das?«, erkundigte sich Annie.
»Das verrät uns das Meer.« Die Wellen brachen sich flach und mit großer Wucht am Ufer. Ihr Vater hatte ihr als Kind erklärt, worauf sie während ihrer samstagmorgendlichen Segelausflüge im Bostoner Hafen achten musste.
»Was verrät es uns sonst noch?«
»Das wird sich zeigen.« Nora kitzelte sie. »Lasst uns zum Cottage hochgehen. Bald ist es Zeit fürs Abendessen.«
Während Nora abspülte (sie und die Mädchen wechselten sich jeden Abend ab – sie nannten das Tellerdemokratie), spielten die Mädchen Jenga und diskutierten über die Glaubwürdigkeit von Märchen. Annie hielt sie für wahr, Ella hatte ihre Zweifel.
»Sie sollen doch gar nicht real sein«, meinte Ella. »Das sind Geschichten, die die Menschen sich ausdenken, um Dinge zu erklären, die sie nicht verstehen.«
»Das glaube ich dir nicht.«
»Du hast keine stichhaltigen Argumente.«
»Und du klingst mal wieder wie eine Anwältin.«
Wie Malcolm. Nora, die einen Teller in der Hand drehte, fragte sich, wer sie jetzt war, abgesehen von ihrer Rolle als Politikergattin, einer Rolle, von der sie sich zu lange hatte definieren lassen. Sie hatte ein abgeschlossenes Jurastudium, sie spielte Gastgeberin für Vertreter der Stadt, saß im Vorstand des Kunstvereins, aber wer war sie wirklich? Was wollte sie? Das wusste sie immer noch nicht. Die Putzmittelflaschen auf der Arbeitsfläche erinnerten sie an ihre Pflicht. Hätte sie ihre Zweifel doch so leicht entfernen können wie Ketchupflecken!
Sie stellte den Teller ins Abtropfgestell und scheuerte heftiger als unbedingt nötig an einem Topf mit eingebrannter Spaghettisauce. In letzter Zeit war es ihr schwergefallen, sich zu konzentrieren. In dem Cottage fühlte sie sich gleichzeitig zu Hause und unsicher. Es hatte sich nicht ganz als der erhoffte Rückzugsort erwiesen, weil es Fragen aufwarf und das kleine Mädchen, das sie einmal gewesen war, sie überallhin begleitete.
»Ich hab recht«, sagte Ella. »Das willst du bloß nicht zugeben.«
»Du bist wie eine dunkle Wolke, aus der es regnet.«
»Regen ist was Gutes. Er reinigt und lässt alles wachsen«, erwiderte Ella.
»Aber nicht die Sorte mit Schlamm und Fluten, die Sachen mitreißen und in denen Menschen ertrinken.«
»Worum geht’s?« Nora hatte das Gefühl, sich einschalten zu müssen, bevor die Auseinandersetzung eskalierte.
»Um Regen«, antwortete Ella.
»Wie kann man nur über so was Harmloses streiten? Wir sollten das Cottage ›das Zankhaus‹ nennen.«
Die Mädchen verstummten. Vielleicht dachten sie an ihren Vater, der gern spielerisch Gerichtsverhandlungen inszenierte, wenn sie sich stritten. Dabei setzte er eine Perücke auf oder drückte auf eine Hupe, die von einer Silvesterparty übrig geblieben war, und schlüpfte in die Rolle eines komischen Richters namens Hermunculus A. Budge (»Judge Budge«), bis sich ihre Auseinandersetzungen in Gelächter auflösten.
»Du bist dran«, sagte Ella zu Annie und deutete auf den Jenga-Turm, den sie gebaut hatten.
»Da geht nichts.«
»Du bist trotzdem dran. Du musst – es sei denn, du gibst auf.«
»Cunninghams geben niemals auf.«
Wieder die Worte ihres Vaters. Er war überall, in allem. Nora scheuerte und scheuerte, bis ihre Schulter schmerzte und ihre Fingerspitzen wund waren. Malcolm krallte sich in ihren Gedanken fest, in ihren Träumen; ihre Gefühle für ihn existierten in Fragmenten weiter, mit ihrer Wut, ihrer Verletzung, fast gegen ihren Willen.
Nach langem Grübeln zog Annie ein Holzklötzchen aus dem Turm. Er geriet ins Wanken. Sie fuchtelte voller Panik herum. »Nein!«
»Lass die anderen Klötzchen. Die darfst du nicht berühren, nur das eine, das du rausnimmst.«
»Das weiß ich!«
Der Turm stürzte klappernd auf den Tisch. »Ich hasse dieses Spiel.« Annie kickte ein Klötzchen durchs Zimmer.
»Weil du immer verlierst«, erklärte Ella. »Du musst dir eine Strategie zurechtlegen, bevor du irgendwas machst.«
»Deine Strategie ist, dass du gewinnen willst. Du gewinnst immer.«
»Das Privileg der Erstgeborenen.«
»Das ist unfair.«
Ella beugte sich mit vorgerecktem Kinn vor. »Das Leben ist eben nicht gerecht.«
»El, es reicht. Und Annie: Lass die Klötzchen liegen«, ermahnte Nora sie.
Die Lichter
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