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Das Mädchen in den Wellen

Das Mädchen in den Wellen

Titel: Das Mädchen in den Wellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heather Barbieri
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Mädchen in der kleinen Bucht und kletterten über die von der Sonne aufgeheizten Felsen. Ihre Handtücher, die über Treibholzstücken ausgebreitet lagen, knatterten im Wind wie bunte Fahnen. Manchmal nahmen sie Schnorchel mit, um das Leben unter Wasser zu beobachten – Seesterne, Elritzen, Seeanemonen. Und sie machten die Bekanntschaft eines Aals, der zwischen den Felsen lebte. Er beäugte sie von seiner Steinfestung aus, seine wulstigen Lippen bewegten sich lautlos. Er hatte das Gesicht eines alten Mannes, das Nora an einen konfuzianischen Weisen oder englischen Friedensrichter erinnerte.
    »Beißt der?«, fragte Annie, die neben Nora und Ella Wasser trat.
    »Wahrscheinlich nur, wenn er sich bedroht fühlt«, antwortete Nora. »Trotzdem sollten wir Abstand halten.«
    Was hatte er in seinem langen Leben schon alles gesehen? Hatte er oder einer seiner Vorfahren beobachtet, wie Nora und ihre Mutter an jenem Tag das letzte Mal mit dem Ruderboot hinausgefahren waren? Hatte der Aal ihre Gespräche damals belauscht, an die Nora sich nicht mehr erinnerte?
    »Vorsicht, Mom«, warnte Ella Nora, als diese den Felsen zu nahe kam.
    »Danke, El. Möchtet ihr eine Runde trainieren, zwischen den Felsen durchschwimmen?« Es handelte sich um eine sichere Distanz im brusthohen Wasser.
    »Und du?«
    »Ich bin da drüben.« Sie deutete auf den äußeren Bereich der kleinen Bucht.
    Sie schwamm scheinbar mühelos. Es war, als würde sie mit dem Meer atmen, als wäre sie Teil davon. Ein Seehund tauchte auf, dann ein zweiter. Sie begleiteten sie, lotsten sie ins tiefere Wasser. Sie hatte das Gefühl, stundenlang so weiterschwimmen zu können.
    Maeve hatte ihr, eine Hand auf ihrem Rücken, in dieser kleinen Bucht das Schwimmen beigebracht. »Kinn hoch, Augen auf den Himmel richten. Keine Angst. Ich halte dich. Siehst du, es ist ganz einfach. Du bist ein Naturtalent wie ich.« Sie hatten das Brustschwimmen geübt, das Nora gefiel, weil sie sich dabei vorkam wie eine Kaulquappe oder ein über die Oberfläche huschender Käfer. Und schließlich das Freistilschwimmen. »Ellbogen hoch, ins Wasser greifen. Von den Hüften nach hinten treten. Von da kommt die Kraft. Kopf runter, Kinn auf die Brust. Ja, genau.«
    Die Seehunde hatten sie und Maeve begleitet.
    »Was wollen sie?«, hatte Nora sich erkundigt.
    »Sie fragen sich, was für Wesen wir sind.«
    »Und was sind wir?«
    »Was wärst du denn gern?«
    »Ein Geschöpf des Meeres.«
    »Dann bist du das.«
    »Mom!«, rief Ella.
    Nora wandte sich um. Sie befand sich außerhalb der kleinen Bucht. Ella winkte ihr von einer Felsnase aus zu. »Hast du mich nicht gehört? Du bist zu weit draußen!«
    Die Seehunde bildeten einen Halbkreis um Nora. Sie fand ihre Neugierde merkwürdig, hatte aber keine Angst, sondern fand sie faszinierend. »Was denkt ihr?«, fragte sie. »Was wollt ihr von mir?«
    Sie verschwanden. Nora wartete einige Minuten, in der Hoffnung, dass sie wieder auftauchen würden, doch das passierte nicht. Und für sie wurde es Zeit zurückzukehren. Nora schwamm mit brennenden Gliedern ans Ufer. Sie hatte unterschätzt, wie weit sie hinausgeschwommen war, wie viel Kraft der Rückweg kostete.
    »Du musst näher am Ufer bleiben. Ich konnte dich kaum noch erkennen«, sagte Ella, als Nora aus dem Wasser stieg.
    »Ich bin den Seehunden gefolgt«, erklärte Nora. Ihr Körper fühlte sich schwer an, ihre Muskeln schienen an Land, wo das Wasser sie nicht mehr trug, aus Gummi zu bestehen.
    »Für die Seehunde ist das okay. Die leben da draußen. Aber wir nicht.« Ella reckte stolz das Kinn vor. »Ich bin so schnell wie noch nie geschwommen. Du hättest mich sehen sollen.«
    »Ich auch«, meldete sich Annie zu Wort.
    »Das muss am Wasser liegen.« Nora schüttelte ihre Haare aus.
    Sie breiteten die Handtücher aus und sanken auf den Strand. Wassertropfen liefen ihre Körper hinunter, wurden vom Sand aufgesaugt, von der Sonne getrocknet und hinterließen einen Salzfilm auf der Haut. Nora erinnerte sich, wie sie vor dem bescheidenen Strandhaus ihrer Freundin Maria Cordova in der Sonne gelegen hatte. Von elf bis dreizehn Jahren, als Maria und Nora beste Freundinnen gewesen waren, hatte Nora jeden Juli eine Woche am Cape verbracht und den Geruch von Paella und die Ausgelassenheit von Marias Großfamilie genossen, die in krassem Gegensatz zu der Ruhe bei ihr zu Hause stand. Sie war die einzige Schülerin von St. Agnes ohne Mutter gewesen.
    »Bleibt’s in den nächsten Tagen so warm?«, fragte Ella.

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