Das Mädchen in den Wellen
House, um den zweiten Imkeranzug ihrer Tante sowie den Hut mit Netz anzulegen. Darin kam sie sich vor wie eine Astronautin, und ihre Schritte wirkten anfangs unbeholfen. Die Bienen umschwirrten sie neugierig, setzten sich auf ihre behandschuhten Hände und Schultern, krabbelten mit zuckenden Fühlern und schlagenden Flügeln ihre Arme hinauf und erkundeten die Berge und Täler des Stoffs darüber.
Maire ging vor Nora, als führte sie eine Prozession an. Sie öffnete und schloss Kästen und blies Rauch hinein, um die Bienen zu beruhigen.
»Heil der Königin«, sagte Maire. »Sie regiert das Volk gut. Schau, wie die anderen jede ihrer Bewegungen beobachten. Das sind italienische Honigbienen. Ich habe mich für sie entschieden, weil sie angeblich sehr friedliebend sind. An dem Tag, an dem ich die Bienen einsetzen wollte, hat es geregnet, also musste ich warten. Ein Imker hat mir geraten, sie an einem kühlen, trockenen Ort unterzubringen, bis das Wetter besser wäre. Ich habe sie mit Zuckerwasser besprüht und sie ins Haus mitgenommen.«
»Ins Haus?«, wiederholte Nora verblüfft.
»Polly hätte fast einen Anfall gekriegt, als sie das sah. Sie hat eine Weile gebraucht, sich an sie zu gewöhnen. Am Ende waren sie gar keine so schlechten Mitbewohner. Nach ihrer Umsiedlung haben sie mir gefehlt. Aber hier sind sie bestimmt glücklicher. Jedes Volk besteht aus zwölftausend Bienen, jeweils ein eigenes Königreich, könnte man sagen. Mach die Augen zu. Sie schlagen bis zu zweihundertfünfzigmal pro Sekunde mit den Flügeln. Das erzeugt diesen summenden Ton. Erstaunlich, was?«
Nora schloss die Augen und gab sich ganz dem melodischen Summen der Bienen hin, das sie wie das Schwimmen im Meer gelassen machte und eine innige Verbindung zur Natur herstellte.
»So.« Maire zeigte ihr, wie man den Rauch in die Kästen hineinblies. Nora hielt den Smoker in der Hand wie die Taschenuhr eines Hypnotiseurs.
»Obwohl wir noch nicht viel Zeit miteinander verbracht haben«, bemerkte Maire, »möchte ich dir sagen, dass du dich auf mich verlassen kannst.«
Anders als auf ihre Mutter. Oder auf Malcolm.
»Die letzten Monate habe ich mich treiben lassen«, gestand Nora. »Das ist untypisch für mich, und das Gefühl gefällt mir nicht.«
»Vielleicht war es gar nicht so sehr ein Sichtreibenlassen, sondern eher ein Sammeln«, meinte Maire. »Wir müssen alle unseren eigenen Weg finden. Einer ist nicht unbedingt besser als der andere. Die Pfade verlaufen krumm und führen bisweilen wieder zurück. Es gibt Sackgassen und atemberaubende Ausblicke, wenn wir uns zum Verweilen und Schauen Zeit nehmen.«
»Ja, da hast du recht.« Maire hätte sie ohne den Brief möglicherweise nie wiedergesehen. Außerdem hatte sie die Mädchen, das Beste, was von ihrer Ehe übrig geblieben war. Und die Tatsache, dass sie sich selbst immer besser kennenlernte, sich dessen bewusst wurde, was sie wollte, was sie inspirierte. Diese Dinge wären ohne ihren bisherigen Weg nicht möglich gewesen. Und dann gab es da noch diese Insel, das Meer, den Garten und die Felder.
»Man darf nicht vergessen, wo man herkommt, weil man sich sonst nicht weiterentwickeln kann«, erklärte Maire. »Einige der schlimmsten Stürme hast du schon überstanden.«
Hatte sie das tatsächlich? »Die hätte ich lieber umschifft.«
»Ich die meinen auch. Aber so ist das Leben nun mal nicht. Wir können nicht immer in ruhigen Gewässern segeln. Wenn doch, wäre uns das wahrscheinlich zu langweilig.«
»Manchmal komme ich mir vor, als würde ich gegen den Strom schwimmen – schon mein ganzes Leben lang. Das ist schwierig zu erklären.«
»Du hattest eine ungewöhnliche Kindheit, fern von deinem Zuhause und den Menschen, die du liebtest. Deshalb denkst du über deinen Platz in der Welt nach. Die letzten Wochen haben diese Tendenz verstärkt.«
Der Chor der Bienen summte. »Danke, dass du nicht lockergelassen und mir den Brief geschickt hast«, sagte Nora. »Es muss hart gewesen sein, so lange nichts von mir zu hören.«
»Ich sollte dir danken. Für die Antwort.« Maire öffnete einen Kasten, so dass Reihe um Reihe netzwerkartiger Waben zum Vorschein kam. »Wenn ich Probleme habe, gehe ich zu den Bienen. Hier, nimm.« Sie reichte Nora den Deckel des Kastens. »Schau, das ist der Honig.« Sie deutete auf die bernsteinfarben glänzenden Perlen. »Zwischen den Stichen des Lebens verbirgt sich bisweilen Süßes. Auch für dich. Hab Geduld.«
FÜNF
J eden Nachmittag schwammen Nora und die
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