Das Mädchen in den Wellen
der Landspitze angeboten. Sie als rustikal zu bezeichnen, wäre noch eine Untertreibung, aber er scheint damit zufrieden zu sein.«
»Wie lange?«, fragte Ella. Die Dinge begannen, interessant zu werden.
Für Nora hingegen wurden sie kompliziert. Sie scheuchte die Mädchen weg auf die Wiese, Blumen pflücken. »Ich dachte, du holst Hilfe und bringst ihn irgendwo im Ort unter«, begann sie, als ihre Töchter außer Hörweite waren.
»Das Telefon hat nicht funktioniert, und ich besitze kein Handy – wenn du mich fragst, machen die verdammten Dinger mehr Ärger, als sie nutzen, aber ich interessiere mich nicht sonderlich für moderne Technik. Ich dachte mir, es hat keinen Sinn, in den Ort zu fahren, solange ich nichts über seinen Zustand weiß. Außerdem wollte er niemandem zur Last fallen. Er ist sehr rücksichtsvoll. So was findet man heute selten.« Sie legte die Kelle weg und sah Nora an. »Mein Instinkt sagt mir, dass er in Ordnung ist.«
»Fehlt nicht mehr viel, dann prophezeist du mir die Zukunft aus dem Teesatz.«
»Manchmal tue ich das. Allerdings nicht sehr ernsthaft. Die Menschen neigen dazu hineinzulesen, was sie sehen wollen. Das verzerrt das Ergebnis«, erklärte sie, halb im Scherz. »Polly ist der Meinung, dass sogar die Teesorte die Deutung beeinflussen kann. Earl Grey sei besser für vorsichtige Leute, Jasmin für abenteuerlustige, weißer Tee für die ehrlichen. Behalte das im Hinterkopf für den Fall, dass sie dir Tee anbieten sollte. Vermutlich bist du in jungen Jahren nicht mit solchen Dingen in Berührung gekommen.«
»Nein«, bestätigte Nora. »Mein Vater hat nicht an Übersinnliches geglaubt. Und meine Mutter?«
»Sie hat nach Zeichen Ausschau gehalten. Sie hatte einen Hang zum Dramatischen und Mysteriösen.«
»Ich wünschte, ich könnte mich erinnern.«
»Möglicherweise weißt du mehr, als du ahnst. Das Unterbewusstsein ist der Schlüssel«, erklärte Maire. »Und das ist in Träumen am aktivsten. Ich habe geträumt, dass er zu uns kommt. Der Mann von heute Nacht. Ich habe ziemlich lebhafte Träume, du nicht?«
»In letzter Zeit hauptsächlich Albträume.« Aus der Kindheit, ein wiederkehrender Traum, dass sie im Meer schwamm, sich bemühte, den Kopf über Wasser zu halten, während die schäumenden Wellen ihre Mutter wegrissen; Träume, in denen sie das Gefühl hatte zu ertrinken, in denen ihr der Atem aus den Lungen gepresst wurde, bevor es ihr im letzten Moment gelang, sich zu retten. Sie schaffte es immer, sich zu retten, während das Schicksal ihrer Mutter ungewiss blieb. »Hat dir dein Traum verraten, wer er ist?«, fragte Nora.
»Nein.« Maire zuckte mit den Achseln. »Er hat es mir selber gesagt. Sein Name ist Owen Kavanagh. Daran hat er sich erinnert, nachdem ich ihn zur Fischerhütte gebracht hatte. Es ist eine lange Inseltradition, Schiffbrüchigen zu helfen. Sie reicht bis in die Zeit der Gründerväter zurück. Hast du den Sog der Vergangenheit gespürt, als wir heute Nacht draußen auf den Felsen waren?«
Stärker, als sie zugeben wollte. Stärker, als sie begriff.
»Und mit dieser Tradition werde ich jetzt nicht brechen.« Maire klopfte die Erde fest. »Außerdem: Wenn er uns nicht passt …«, sie ließ lächelnd einen Unkrautstängel in einen Eimer fallen, »… können wir ihn immer noch zurück ins Meer werfen.«
Die Mädchen schlichen zu den Felsen in der Nähe der Fischerhütte. Die grauen Schindeln des einräumigen Schuppens waren ausgeblichen, das mit Kieseln gedeckte Dach nicht mehr ganz dicht, und die Tür hing ein wenig schief in den Angeln. Die Hütte sah nicht aus, als könnte sie den heftigen Stürmen trotzen, die viele Monate des Jahres über die Insel hinwegfegten, doch genau das hatte sie getan.
»Gott sei Dank wohnen wir nicht hier«, bemerkte Ella. »Im Vergleich dazu sieht das Cottage aus wie das Plaza.« An ihrem zehnten Geburtstag waren sie nach New York gefahren und hatten in dem Hotel übernachtet.
»So schlimm ist es auch wieder nicht …«, versuchte Annie abzuwiegeln, obwohl es selbst ihr schwerfiel, etwas Positives an diesem Schuppen zu finden. »Sind das Knochen?« Sie deutete mit zitterndem Finger auf einen Haufen hinter der Hütte.
»Das sind Fischgräten, du Dummkopf. Wir stehen vor einer Fischerhütte, hast du das schon vergessen?«
»Sind die alt?«
»Das wage ich zu bezweifeln. Richtig alte wären zu Staub zerfallen.«
»Ich will nicht zu Staub zerfallen.«
»Irgendwann tun wir das alle.«
»Was ist mit unserer
Weitere Kostenlose Bücher