Das Mädchen in den Wellen
als steckte das Haus in der Zeit fest. Die Uhr war stehen geblieben; jetzt bestand auch keine Notwendigkeit mehr, sie aufzuziehen. Nora spielte mit dem Gedanken, alles so zu lassen, wie es war, ein Museum der Vergangenheit. Sie konnte sich nicht dazu durchringen, darüber nachzudenken, wie Besitztümer und Grund aufzuteilen waren, obwohl sie wusste, dass irgendwann Entscheidungen gefällt werden mussten. Ob sie bleiben oder gehen würde. Ob sie die Scheidung einreichen würde. Ob sie nach Owen suchen oder ihn ziehen lassen würde. Dafür war es vermutlich zu spät.
Der Anrufbeantworter schaltete sich ein. Eine Männerstimme – wahrscheinlich die von Jamie; Maire hatte die Ansage nie verändert – verkündete: »Wir sind im Moment nicht zu Hause. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Piepton, dann rufen wir Sie zurück, so bald es geht.«
Die Kassette rauschte wie der Wind, der Blätter und Sand über die Terrasse wehte. Nora ging nicht ran. Die Kassette spulte weiter. Warum sprach niemand darauf?
Sie stand auf. Vielleicht wusste da jemand noch nicht Bescheid …
Als sie näher herantrat, sah sie, dass das Kabel samt Stecker lose herunterhing. Die Kassette spulte weiter bis zum Ende. Nach einem Klicken spulte sie zurück und begann von Neuem. In dem Gerät schien sich eine Batterie zu befinden, die es in Gang gesetzt hatte …
Noras Herz klopfte laut. Das war das einzige Geräusch, das sie abgesehen von dem der Kassette hörte. »Was willst du mir sagen?«, fragte Nora.
Die Schatten wurden länger. Bald würde die Nacht hereinbrechen. Nora überlief ein Schauer. Sie wollte nicht in Cliff House sein, wenn es dunkel wurde.
ZWEIUNDZWANZIG
A m folgenden Tag fuhr Nora auf der Küstenstraße, die sich über die Klippen dahinschlängelte, nach Portakinney. Die Klippen hier waren höher als die bei Cliff House, ein Geländer bildete den einzigen Schutz gegen einen Sturz in die Tiefe. Eine Möwe flog direkt vor der Windschutzscheibe vorbei und erschreckte Nora, die ohnehin schon nervös war, mit ihrem Geflattere und Gekreische. Nora hatte den Anruf getätigt und angekündigt, dass sie kommen würde. Sie konnte jetzt nicht einfach umkehren.
Am Abend zuvor hatte sie mit Alisons Vater Liam Scanlon gesprochen, ihn gefragt, ob sie Maggie besuchen könne, und ihm erklärt, warum sie kommen wollte.
»Sie müssen das nicht machen«, hatte er ihr versichert. »Und ich muss mich für ihr Verhalten entschuldigen. Früher war sie nicht so.«
»Das ist das Mindeste, was ich tun kann. Vielleicht hilft mein Besuch ihr, ihren Frieden zu finden.«
»Das ist nun wirklich nicht Ihr Problem. Und egal, worum es sich handelt: Es gehört der Vergangenheit an.«
»Für sie offenbar nicht.«
»Stimmt«, pflichtete er ihr müde bei. »Merkwürdig, ihre fixen Ideen. Neulich hat sie sich wegen des Regens aufgeregt. Wegen des Regens – als könnte man gegen den was machen. Sie dachte, er greift sie an. Ich weiß nicht, wie lange wir uns noch hier um sie kümmern können, aber ich ertrage den Gedanken nicht, sie in ein Heim zu stecken. Schließlich ist sie meine Mutter.«
»Ich möchte nicht in Ihrer Haut stecken.«
»Ich am liebsten auch nicht. Das Leben macht es uns nicht immer leicht, am allerwenigsten dieser armen Frau.«
Ja, dachte Nora, das stimmte.
Er erklärte ihr den Weg: »Fahren Sie nach dem Ort etwa einen Kilometer in nördlicher Richtung, und nehmen Sie dann die dritte Abzweigung ins Landesinnere. Halten Sie Ausschau nach einem Cottage auf einem Hügel, hinter einem Holztor.«
Nora legte eine kurze Kaffeepause bei Joe to Go ein – sogar auf der Insel gab es einen Espressostand –, nicht so sehr, weil sie Koffein brauchte, sondern, weil sie das Treffen noch ein wenig hinauszögern wollte. Sie überprüfte im Rückspiegel ihr Gesicht und wischte einen kleinen Fleck ihrer Wimperntusche unter dem Auge weg. Dann warf sie einen Blick auf ihre Uhr. Sie wollte nicht zu früh bei den Scanlons ankommen.
Also blieb sie eine Weile im Auto sitzen und beobachtete die Welt von Portakinney, wie sie an ihr vorbeizog. Cis McClure nickte ihr zu, als er ein Fass Bier durch die Vordertür seiner Kneipe hievte. Dec Connelly schlenderte an ihr vorbei. Als ihre Blicke sich trafen, erstarrte sie. Er schien sie nicht wiederzuerkennen. Im Licht des Tages sah sie, dass er höchstens Anfang zwanzig war.
Sie trank einen letzten Schluck Kaffee, bevor sie aufbrach und den Ort hinter sich ließ. Nahe beieinanderstehende Gebäude machten
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