Das Maedchen mit dem Stahlkorsett
wieder – es war, als könnte er ihre Gedanken lesen.
»Was glaubst du, wer für die Sicherheit dieses Landes sorgt, damit du nachts schlafen kannst?«
»In den meisten Nächten schlafe ich sowieso nicht. Und um ehrlich zu sein, Durchlaucht, besonders sicher fühle ich mich auch nicht.«
Er legte den Kopf schief. »Das könnte ich ändern.«
Finley glaubte ihm. Nicht nur das, sie vertraute ihm, was für sich genommen schon ein Wunder war. Wann hatte sie das letzte Mal einem männlichen Wesen vertraut?
»Zuerst«, sagte er und stand abrupt auf, »müssen wir dir neue Kleider besorgen. Gleich kommt eine Näherin vorbei und nimmt deine Maße.«
»Ich habe kein Geld.«
Ungläubig sah er sie an. »Darüber musst du dir keine Sorgen machen. Ich habe genug für uns beide.« Wieder blitzte es in seinen Augen. Er lachte über sie, aber es war kein boshaftes Lachen.
Langsam stand auch Finley auf und erwiderte seinen Blick. »Ich habe nicht den Wunsch, noch tiefer in deiner Schuld zu stehen, als es jetzt schon der Fall ist.«
Er dachte einen Moment nach. »Würdest du dich wohler fühlen, wenn ich zum Ausgleich etwas von dir verlange? Würde es dich beruhigen, wenn du wüsstest, dass ich Erwartungen hege?«
Bei diesen offenen Worten bekam sie ein schlechtes Gewissen, weil sie so unschöne Dinge über ihn dachte. »Ja, das würde mich beruhigen. Wenigstens wäre es ehrlich.«
Die spöttischen Laute, die er ausstieß, hätten ein Lachen sein können, doch es klang nicht sonderlich humorvoll. Er schüttelte den Kopf, in seinem Haar glühten dunkelrote Funken. »Ich möchte wirklich mal denjenigen treffen, der dich so misstrauisch gemacht hat, und ihm nacheinander alle Zähne ausschlagen.«
Der Ausbruch erschreckte sie und gefiel der dunklen Seite, die tief in ihr lauerte. »Es waren mehr als nur einer.«
Seine Miene verdüsterte sich, Wolken schoben sich vor die Sonne. Auf einmal stand kein freundlicher, gelangweilter Aristokrat mehr vor ihr, sondern ein junger Mann, der gefährliche Dinge tun konnte.
Interessant, dachte sie und lieh sich das Wort von ihm.
»Was ich von dir will«, sagte er, und Finley machte sich auf das Schlimmste gefasst, »ist dein Vertrauen. Dein unerschütterliches, unwiderrufliches Vertrauen. Ich will, dass du dein Leben in meine Hände legst, und ich will fähig sein, ohne Zögern das Gleiche auch umgekehrt tun zu können.«
Finley konnte nur verstört den Kopf schütteln. »Du verlangst zu viel.« Sein Leben in ihre Hände legen? Er war ohne Zweifel verrückt, völlig durchgedreht.
Wieder setzte er das schiefe Grinsen auf. »Zu viel verlangt? Du fremdes, wundervolles Mädchen, das ist das Mindeste, was ich von dir verlange.«
Jeder, der Sam Morgan genauer betrachtete, erkannte sofort, dass der junge Mann Streit suchte. Leider waren die anderen Gäste in der Schänke entweder nüchtern genug, um ihm aus dem Weg zu gehen, oder zu betrunken, um sich mit ihm anzulegen.
Düster brütend und so weit wie möglich von dem automa tischen Wirt entfernt, saß er in einer Ecke. Schon der Anblick des glänzenden Messingmanns ließ sein linkes Auge zucken. Glücklicherweise kam aber eine menschliche Bedienung – ein junges Mädchen – an seinen Tisch. Sie trug eine weiße Bluse, die die runden Schultern frei ließ, ein eng geschnürtes Korsett, in dem sie unglaublich schmale Hüften hatte, während es ihre üppige Oberweite umso stärker betonte, und einen kurzen, federnden Rock, der einen Blick auf wohlgeformte Waden in dunklen Strümpfen erlaubte. Nichts davon bekam Sam mit.
»Guten Tag, der Herr«, sagte sie und rollte das ›r‹, wie es alle Waliser taten. »Was darf ich Ihnen bringen?«
»Eine Pinte«, erwiderte er unwirsch und schob eine halbe Krone über den zerkratzten Tisch. Das war eine großzügige Bezahlung.
Grinsend schnappte sie sich die Münze und eilte davon, um das Bier zu holen. Auf der anderen Seite des Schankraums stand ein schäbig gekleideter Mann in dem mit Gin und Ale getränkten Sägemehl und warf eine Münze in den Schlitz der automatischen »Victoria Victrola«. Klimpernd landete das Geldstück in der Kasse, dann surrte es, und der Torso im oberen, mit Glas verkleideten Teil des Apparats regte sich. »Victo ria« hatte volles rotbraunes Haar und geschminkte rote Lippen. Der Unterkiefer war beweglich, als bestünde sie tatsächlich aus Fleisch und Blut und könnte Lieder singen. In Wirklichkeit war sie eine billige Aufziehpuppe, die im Takt der Musik mit dem
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