Das Maedchen mit dem Stahlkorsett
betrachtete sie die Porträts an den Wänden, die teils Jahrhunderte alt waren und teils aus der Gegenwart stammten. Wo keine Bilder hingen, waren die Wände weiß gekalkt und unglaublich hoch. Verglichen mit diesem Haus wirkte der Sitz der August-Raynes wie eine Hütte.
»Darf ich Ihnen helfen, Miss?«, fragte eine ältere Dame, als Finley unten ankam. Der schwarzweißen Tracht und der Haube nach zu urteilen, war sie die Haushälterin. Die Frau wirkte ein wenig … vorsichtig.
Noch jemand, der sich vor ihr fürchtete. Wundervoll. »Ich soll in der Bibliothek vorsprechen«, erklärte sie.
»Ah, gewiss«, antwortete die Haushälterin. »Seine Durchlaucht will Sie dort empfangen. Durch den Südgang, die zweite Tür rechts.«
Finley bedankte sich murmelnd und wanderte mit weichen Knien in die angegebene Richtung. Durchlaucht? War der Vater des reichen Knaben etwa ein Herzog? Schöner Mist. Dann kannte er natürlich auch die August-Raynes. Ob man sie zurückschicken würde? Oder, schlimmer noch – sie konnten die Polizei rufen und sie verhaften lassen.
Bei diesem Gedanken erwachte ihr Trotz. Sie würde dem Papi des reichen Knaben das Genick brechen, ehe sie sich von den Polizisten nach Newgate oder Bedlam schleppen ließ.
Unwillig schüttelte sie den Kopf, um die Dunkelheit zu vertreiben. Was war das für ein Ding in ihr? Manchmal gab es ihr schreckliche Gedanken ein. Außerdem sorgte es dafür, dass sie nicht zum Opfer wurde, und stärkte sie, wenn andere sie für schwach hielten. Sie hasste es, musste sich aber beschämt eingestehen, dass sie es auch mochte.
Eines aber wusste sie ganz genau: Es war nicht richtig.
Die Tür der Bibliothek stand offen, trotzdem klopfte sie leise an, ehe sie eintrat. Sie war nicht daran gewöhnt, sich in einem solchen Haus frei zu bewegen. Außerhalb der Arbeitszeiten hatte sie sich gewöhnlich in ihrem Zimmer aufgehalten. Diener durften nicht herumstrolchen und wichtigen Leuten in die Quere kommen.
Hier war sie allerdings keine Dienerin, sondern ein Gast. Oder eine Gefangene.
Aber was für ein Gefängnis war das! Finley sperrte den Mund auf, als sie die Regale sah. Bücher vom Fußboden bis zur Decke und von Wand zu Wand. So viele Bücher – mehr, als sie je an ein und demselben Ort gesehen hatte.
»Hallo?« Ein wenig verzagt wagte sie sich in den Raum hinein. »Ist jemand da?«
»Hallo.«
Sie blickte hoch. Dort oben, auf der Galerie, die rings um den ganzen Raum lief, stand der reiche Knabe. Er hatte die Unterarme auf das Geländer gestützt und lächelte auf sie herab. Das rötlich schimmernde Haar fiel ihm in die Stirn. Er trug schwarze Hosen und ein weißes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln und offenem Kragen unter einer schwarzen Lederweste. Er wandte sich zur schmalen Wendeltreppe und kam herunter. Die Stiefel mit den dicken Sohlen polterten ein wenig auf den Holzstufen. Er bewegte sich lässig und elegant wie jemand, der genau wusste, wer er war, und dem es egal war, ob man ihn mochte oder nicht.
Das Glücksschwein.
Er kam geradewegs zu ihr und gab ihr die Hand. »Griffin King.«
Finley zuckte zusammen. Griffin King. Der Duke of Greythorne. Letzte Woche hatte sie Lady Alyss mit ihren Freundinnen über ihn reden hören. Sie hatten gesagt, er sehe gut aus, sei unermesslich reich und hätte einen hübschen Hintern. Was letzteren Punkt anging, so konnte Finley im Moment keine verbindliche Aussage machen, doch er war sicherlich ein angenehmer Anblick und erweckte durchaus den Eindruck, unverschämt reich zu sein.
Also gab es keinen Papi, sondern nur ihn. Offenbar hatten sie trotz des gesellschaftlichen Abgrunds, der zwischen ihnen klaffte, etwas gemeinsam.
Zögerlich gab sie ihm die Hand und entschloss sich zu einem tiefen Knicks. »Finley Jayne, Durchlaucht.« Sie senkte den Blick.
»Lass das«, erwiderte er leise und streng. »In diesem Haus sind wir Gleichgestellte.«
Überrascht stand sie auf und erwiderte seinen Blick. »Wie das?«, fragte sie.
Er lächelte schief, was Finley keineswegs die Sorgen nahm. »Ich habe gesehen, wozu du fähig bist, Finley. Würde es dich überraschen, wenn ich dir sage, dass auch ich über gewisse Fähigkeiten verfüge?«
»Was ich habe, kann man kaum eine Begabung nennen«, entgegnete sie. Höchstens einen Fluch. Oder eher einen Dämon. Ja, sie brauchte einen ordentlichen Exorzismus.
Er legte den Kopf schief, ohne ihre Hand loszulassen, und kniff die blaugrauen Augen ein wenig zusammen, als wollte er durch sie
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