Das Maedchen mit dem Stahlkorsett
Freund ihn gebraucht hätte? Gut so. Finley kannte nicht alle Einzelheiten des Streits zwischen ihnen, konnte aber immerhin ein gewisses Maß an Mitgefühl für Sam aufbringen. Gleichzeitig hätte sie den Riesen am liebsten in den Hintern getreten, weil er sich selbst bemitleidete. Auch dieses Gefühl kannte sie nur zu gut.
Lady Marsden stürmte zu ihrem Neffen und umarmte ihn. Über seine Schulter hinweg suchte sie Finleys Blick. Am liebsten hätte sich Finley abgewandt, doch sie hielt stand, und die Reue, die sie nun sah, überraschte sie. Als die Lady Griffin freigegeben hatte, kam sie mit ausgestreckter Hand auf Finley zu.
»Miss Jayne, ich möchte mich entschuldigen, weil ich so wenig Rücksicht auf Ihrer beider Gesundheit genommen habe. Seit ich hier angekommen bin, habe ich mich wie ein Drachen benommen, und das haben Sie nicht verdient.«
Finley zögerte einen Moment, ehe sie die angebotene Hand ergriff. »Was hat Ihre Meinung geändert?«
»Sie selbst«, erwiderte die Lady. »Sie haben Schaden genommen, sind aber nicht böse. Ich weiß jetzt, dass Sie für meine Familie keine Bedrohung darstellen.«
Finleys Herz schlug schneller. »Sie meinen, ich … ich habe Lord Felix nicht …« Sie konnte nicht unumwunden fragen, ob sie wirklich keine Mörderin war.
Lady Marsden hielt ihre Hand fest und tätschelte sie. »Nein, Sie haben ihn nicht ermordet. So viel konnte ich sehen.«
Die Erleichterung durchflutete sie so stark, dass Finley die Schultern hängen ließ. »Vielen Dank.« Es spielte keine Rolle mehr, wie rücksichtslos die Lady vorgegangen war, als sie ihr die Informationen entrissen hatte. Sie hatte die Wahrheit herausgefunden, und nun musste Finley nicht mehr fürchten, jemanden getötet zu haben.
Mit leicht bemühtem Lächeln ließ Lady Marsden ihre Hand los und richtete die Aufmerksamkeit wieder auf ihren Neffen. Sie nahm Griffin in den Arm und bugsierte ihn ins Haus. Als Finley die Tür von außen betrachtete, erkannte sie, wie viele Scheiben Griff zerstört hatte. Waren es seine geistigen Kräfte gewesen, oder war er einfach hindurchgerannt? Schnittwunden hatte sie nicht bemerkt, also musste es Ersteres sein.
Emily hakte sich lächelnd bei Finley ein. »Komm mit, Mädchen. Ich gebe dir was gegen die Verbrennungen.«
Während sie zusammen ins Haus gingen, wuchs in Finley das Gefühl, wirklich hierher und zu diesen Menschen zu gehören. Es war das erste Mal seit ihrer Kindheit, dass sie sich so fühlte. Angenommen. Gewollt.
Wie lange konnte das halten?
Später, nachdem er gebadet, etwas gegessen und geschlafen hatte, kam Griffin herunter und wollte in der Äthermaschine nach Hinweisen auf Lord Felix’ Tod suchen. Es reichte nicht, dass Cordelia Finleys Unschuld in deren Geist gesehen hatte – Scotland Yard war auf handfeste Tatsachen angewiesen. Wenn Griffin eine Spur fand, konnte er Wachtmeister Jones wenigstens einen Fingerzeig geben, damit der Polizist Finley möglichst schnell wieder vergaß.
Angenehm dabei war natürlich, dass Scotland Yard ohnehin nicht glauben mochte, ein Mädchen von etwas mehr als fünfzig Kilogramm Gewicht besäße genug Kraft, um einen jungen Mann von der Statur des Lord Felix zu erwürgen.
Leider waren die Angestellten noch dabei, die Terrassentür in seinem Arbeitszimmer zu reparieren, daher konnte er die Maschine vorläufig nicht benutzen. Neugierige Blicke konnte er überhaupt nicht gebrauchen. Die Diener wussten zwar, dass sich die seltsame Maschine dort befand, doch niemand hatte sie je in Betrieb gesehen, und so sollte es auch bleiben.
Da die Teestunde nahte, ging er in den blauen Salon. Zu seiner Überraschung fand er dort Finley allein vor.
Als er eintrat, blickte sie auf. Seltsam, aber sie wirkte ein wenig nervös, als hätten die Ereignisse des Nachmittags einen Keil zwischen sie getrieben, statt sie einander näher zu bringen.
»Emily wird gleich eintreffen, sie muss sich nur noch umziehen. Sie war die ganze Zeit im Labor«, erklärte Finley überflüssigerweise. »Sam will auch kommen, nachdem er etwas trainiert hat. Deine Tante ruht sich aus, wenn ich es richtig verstanden habe.«
Griffin lächelte und hoffte, beruhigend zu wirken. »Dann haben wir jetzt ein wenig Muße.«
Sie verzog die vollen Lippen zu einem kleinen Lächeln. »Ja, nun sind wir faule Knochen.«
Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, eine Jacke überzuziehen, deshalb gab es auch keine Rockschöße, die er hochwerfen musste, ehe er sich neben sie auf das blaue Brokatsofa
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