Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
Nicolas.
»Du hast wen am Hof gesehen? Ronsard?«, fragte er ungläubig. Seine ohnehin besorgte Miene verdüsterte sich, als er den Namen nur hörte.
»Ja, mit dem Prinzen Henri d’Anjou.«
Nicolas verzog die Stirn. »Aber das ergibt keinen Sinn. Der König hat die Guise öffentlich gemaßregelt und ihnen seine Gunst entzogen. Warum sollte ein Mitglied der königlichen Familie sich noch mit einem Spion der Spanier oder der Guise abgeben?«
»Ich weiß es nicht. Sie wirkten, als wollten sie nicht gesehen werden …« Madeleine kam nicht dazu, ihren Satz zu beenden, denn im selben Augenblick stürmte Clément in den Raum. Sein Hut saß schief, und er war völlig außer Atem. »Es stimmt – ich bin sämtliche Quartiers abgeritten, Monsieur de Vardes. Es werden überall heimlich Waffen an die Miliz ausgeteilt!«
Madeleine spürte, wie ihr kalt wurde.
Nicolas erhob sich mit zusammengepressten Lippen von seinem Stuhl. »Ich spreche mit dem Admiral«, sagte er.
Als Coligny die Neuigkeit hörte, befahl er, einen Boten zum König zu entsenden. Die Antwort ließ kaum eine Stunde auf sich warten: Seine Majestät sei entsetzt, derlei zu hören. Man habe keinen solchen Befehl erlassen, und es sei der Miliz verboten, Waffen in Friedenszeiten zu tragen!
Doch die Berichte, die sie von überall erreichten, widersprachen der Antwort des Königs. Boten kamen und gingen den ganzen Tag – auch von dem besorgten Henri de Navarre.
»Entweder lügt Charles, oder die Miliz handelt tatsächlich ge gen seinen Befehl, und der König hat diese Stadt nicht mehr unter Kontrolle! Und beides erscheint mir gleichermaßen bedrohlich«, sagte Nicolas.
Madeleine hatte den Männern mit blasser Miene zugehört.
Die Pariser Miliz, die in Kriegszeiten zur Verteidigung der Stadt genutzt wurde, war mächtig. Sie unterstand dem Stadtvogt und konnte in jedem Quartier von Paris auf ihre Männer zurückgreifen. Man behauptete, dass sie unter den dreihunderttausend Einwohnern jederzeit auf Abruf fünftausend Mann aufstellen konnte, mit ein wenig Vorbereitung auch leicht das Doppelte oder Dreifache.
»Gebt unseren Männern Bescheid, ich möchte mit ihnen allen sprechen!«, sagte der Admiral, der erschöpft in den Kissen lehnte. Seine Hand ruhte auf der Bibel, die neben ihm lag.
Madeleine zog Nicolas zur Seite, als sie aus dem Gemach traten. »Wir müssen Paris verlassen. Du musst die anderen überzeugen … Es wird geschehen, Nicolas! Alles spricht dafür«, sprach sie leise auf ihn ein. Sie erzählte ihm auch von der Frau und dem Kind aus ihrem Traum, die sie auf der Straße gesehen hatte.
Er schwieg. »Der Admiral ist zu schwach, um zu reisen«, sagte er dann.
Es war früher Abend, als sich die Anführer der Hugenotten erneut im Palais bei dem Admiral versammelten. Coligny saß halb aufgerichtet in seinen Kissen. Er hatte Paré zuvor um ein Stärkungsmittel gebeten. »Das, was ich jetzt sage, ist ein Befehl. Ich ordne an, dass alle Anwesenden mit ihren Familien und ihrem Gefolge Paris verlassen.«
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen im Raum. »Verzeiht, bei allem Respekt, aber wir lassen Euch hier nicht verletzt zurück!«, sagte La Rochefoucauld, einer der Hugenotten.
»Außerdem würde eine solche Massenbewegung nicht nur wie eine Flucht wirken, sondern solche Besorgnis erregen, dass man vielleicht nur deshalb auf uns losgeht«, gab ein anderer zu bedenken.
»Vielleicht ist die Bewaffnung der Miliz nur eine Verteidigungs maßnahme!«, sagte Tenley, der im letzten Jahr Colignys Tocher Louise geheiratet hatte.
Es ging hin und her. Keiner der Anwesenden war bereit, den Admiral allein zu lassen.
»Es ist ein Befehl!«, sagte Coligny aufgebracht, doch das Schweigen verriet, dass niemand ihm Folge leisten würde.
Madeleine hörte am Abend voller Ohnmacht, was Nicolas ihr von dem Ergebnis der Versammlung erzählte.
»Ich wäre auch nicht gegangen, wenn man anders entschieden hätte«, sagte er. Er strich ihr sanft durchs Haar. »Aber ich möchte, dass du die Stadt verlässt, Madeleine. Ich würde es nicht ertragen, wenn dir etwas geschähe oder du noch einmal in die Hände der Guise gerietest!«
»Du wirst keine Möglichkeit mehr haben, es zu ertragen, wenn du bleibst, weil es dich vorher das Leben kosten wird«, erwiderte sie bitter. Ihre blaugrauen Augen hatten sich verdunkelt. Sie hatte immer gewusst, dass er nicht ohne Coligny abreisen würde. Sie hob das Kinn. »Ich werde nicht ohne dich gehen. Niemals«, sagte sie
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